2. Krumme und gerade Wege

Machtholf hat sich nicht blos in seinen oben genannten Personalien, sondern auch, als er Vikar war, in einem Briefe an mehrere zu einem Bruderkreise vereinigte Geistliche offen und aufrichtig über seinen Lebenslauf, besonders nach der innern Seite hin, schriftlich ausgesprochen. Sonst wüßten wir nichts davon, und dieses theure Leben wäre, wie so manches andere Pilgerleben, ziemlich unbemerkt vorübergegangen. Ich habe dem Kapitel die Ueberschrift gegeben: Krumme und gerade Wege. Wie viele krumme Wege gehen doch die Menschenkinder, weil sie nicht den geraden ziehen wollen, der die Verheißung hat, daß er zum Leben führt. Schonungslos urtheilt Machtholf über sich selbst, als er im Lichte stand, und als auch seine verkehrten Wege vor ihm im Lichte dalagen.

Wir haben schon vernommen, daß Vater Machtholf es als seinen bestimmten Willen ausgesprochen hatte, seinen Gottlieb Friedrich nicht in eine öffentliche Schule zu thun. Dieser Wille ihres Mannes war der Wittwe wie eine testamentarische Verordnung. „Das behielt meine liebe Mama“, erzählt Machtholf, „und sahe nur zu, ob ihr der liebe Gott Weg machen werde, dieses Vorhaben meines seligen Vaters hinauszuführen“. Jetzt ergab sich dies ganz ungesucht und ungezwungen.

Wenn Machtholf auf den Pfarrer Gmelin von Iptingen, in dessen Haus er als Kind mit seiner Mutter sich aufhielt, zu reden kommt, so weiß er nicht liebliche Ausdrücke genug zu finden, um diesen Knecht Gottes zu rühmen. Da nennt er ihn bald den theuren Seelsorger, bald den theuren und lieben Mann. Als solchen bewies er sich denn auch wirklich gegen den Kleinen. Es dauerte nicht lange, so nahm ihn Gmelin schon in die Information und würdigte ihn seiner Aufsicht und herzlichen Sorge, wie wenn er sein eigenes Kind gewesen wäre. Die treue Mutter hatte ja nur dies eine Kind, das ihr ganzer Schatz auf Erden war, und weil sie selbst eine ächte Christin war, so war es ihre Hauptsorge, ihren Gottlieb für den Herrn zu erziehen. Darin fand sie an Gmelin eine wackere Stütze, und Mütter brauchen gewöhnlich eine Stütze bei Erziehung von Buben. Hören wir ihn, wie er sich selbst über die Erziehung, die er im Hause Gmelins genoß, und über seinen damaligen Herzensstand aussprach, es ist ernst genug:

„Er wußte mich auch so weislich aufzuziehen mit Handreichung meiner gewiß recht treuen Mutter, daß mein Herze stark auf’s Gute gelenket worden, allein nur Schade, daß es meistens bei gehäuften guten Vorsätzen bliebe, da ich öfters so starke Ueberzeugungen hatte, die mich nicht eher ruhen ließen, bis ich mich eines Besseren besann. Ich war aber so thorrecht [veraltet; für: töricht], daß ich immer dem Anfang meiner ganzen Bekehrung einen Termin setzen wollte, und so konnte ich mir oft vornehmen:  Nach zwei, drei oder mehr Tagen oder Wochen, wenn ich vorher diese und jene Kinderlust noch begangen haben würde, wolle ich so und so fromm und herrnhutisch werden. Denn von den Herrnhutern hörte ich damals so viel und lernte etliche kennen, die mich auch fast mit Gewalt mit nach Herrnhut nehmen wollten, das aber meine treue liebe Mutter nicht zugelassen, weilen sie keine Spuren der göttlichen Führung dabei gehabt auf deren Wink sie doch merkte“.

Wir sind noch nicht am Ende dieser Selbstschilderung, ich möchte sagen Selbstverurtheilung Machtholf’s. Er führt uns noch tiefer in die Krümmungen seines Herzens, deren Spuren ihm im Lichte des göttlichen Wortes klar vor Augen lagen. Er fährt fort, am oben abgebrochenen Faden weiter zu spinnen:

„Unter diesen Umständen trieb mich in meiner zarten Jugend Hochmuth und Heuchelei aus dem Grund der garstigen Eigenliebe gewaltig um, daß ich mich noch erinnere, was affektirten Hochmuth ich schon verübet und wie reumüthig ich mich öfters bezeugen können, wenn ich etwas Sträfliches gethan, damit ich nur mit Schlägen verschont und lieb sein möchte. Ich wußte aber dennoch wohl, daß ich kein Heuchler bleiben dürfte, und wollte die Heuchelei nur so lange treiben, bis es mir endlich geschickt sein würde, mich ganz zu bekehren, da aber meine Vorschläge, wenn es zu der vorgesezten Zeit kam, immer wieder ohne Nachdruck geblieben und weiter verschoben wurden. Oder bekehrte ich mich auch manchmal eine Zeit lang; wenn mir aber wieder über eine kurze Weile eine liebe Lust begegnete, so konnte ich’s wieder auf eine weiter hinaus bestimmte Zeit verschieben und aufgeben, und hielte also nicht Stand, denn ich fing meistens alles auf eigene Kräfte an, und hatte auch die Eigenliebe zum Grunde, bei dem lieben Gott wohl dran zu sein, wie bei den Menschen, und nicht in die Hölle zu dürfen. Um dieser unlautern Absichten willen kam ich zu nichts, denn die Eigenliebe, so viel ich mich kenne, war von Jugend auf mein stärkster Feind, der mich das eine Mal eine Sünde zu thun, das andere Mal sie zu lassen verleitete. O ein gefährlich Temperament!“

Wie schildert doch dieser demüthige tiefe Kenner seines eigenen Herzens damit unser aller Herz, die wir dies lesen. Frühe schon regten sich auch die fleischlichen Lüste in dem Herzen des Knaben. Er thut in dem bewußten Briefe an theure Amtsbrüder Selbstbekenntnisse, wie sie Augustinus in seinem bekannten tiefsinnigen Buche nicht aufrichtiger thun kann. Niemand hat ihn zu den Jugendsünden verleitet, und gar nichts außer ihm war die Ursache. „Mein eigenes Herz“, klagt er, „war schon leider so garstig“, und fügt den wehmüthigen Seufzer bei: „Ach Gott, verzeihe es mir!“

Von dieser Zeit an hatte er überhaupt mit Lüsternheit zu kämpfen. Freilich ließ der gute Hirte im Himmel, der sich dieses Schäflein erwählt hatte, von Mutterleib an allerlei Trübsale über ihn ergehen, um ihm seine Lüsternheit gründlich zu verleiden.

Etwas väterliches Vermögen war der Mutter Machtholf und ihrem Söhnlein noch geblieben. Sie hatte die betreffenden Papiere in Verwahr, aber ein Verwandter besorgte den Einzug der Zinsen. Das war ein schlechter Mensch. Er zog die Kapitalien bei den Schuldnern ein und – verpraßte sie. Als diese Ungerechtigkeit herauskam, konnte Frau Machtholf nichts mehr herauskriegen, und so stand sie mit ihrem Knaben in voller Armuth. Freilich hätte sie sich an die Schuldner halten können, die im Unverstande an einen Unberechtigten auszahlten. Es hätte dann natürlich einen Prozeß abgesetzt, der ohne Zweifel zu Gunsten der Wittwe ausgefallen wäre, aber einen solchen wollte sie nicht und setzte ihr Vertrauen auf den Herrn, in der Ueberzeugung ,daß er ihr schon durchhelfen werde. Sie sah ein, daß sie nur darum so arm geworden, damit der Herr, wie Machtholf sagt, sich unter solchen Glaubensproben desto mehr an uns verherrlichen könne. Und solch Vertrauen ließ sie nicht im Stiche. Ein anderes Mal gerieth die Mutter in große Noth . Der kleine Gottlieb hatte Pflaumen gegessen, da blieb ihm ein Kern im Halse stecken, er wurde schon blau, das Ersticken drohte, aber der Herr half hindurch. Da zeigte sich der Finger Gottes, wie er es später erkannte.  Das war aber nicht der erste und letzte Finger, welchen Gott aufgehoben hat, um das Herz des jungen Machtholf an sich zu ziehen. Fünf Mal hatte er den Friesel und Gott half ihm jedes Mal in Gnaden durch.  Ueberhaupt litt er viel an Schwächlichkeit. Statt ihn hinwegzunehmen, „hat der Herr mich nicht nach meinem Verdienst behandelt“, bekennt er.

Das sind eben so einige der geraden Wege gewesen, auf denen der Freund der Seelen den Kleinen zu sich bringen wollte. Die Mutter war eine weise und liebevolle Erzieherin. Weil sie wußte, daß der Müssiggang, wie die Alten sich stark, aber wahr aussprechen, des Teufels Ruhebank ist, so gab sie ihm immer Etwas nach seinen Kinderkräften zu schaffen. Versah er es in Etwas, daß mit der Ruthe eingeschritten werden mußte, so nahm sie den Knaben besonders zu sich, fiel mit ihm zum Gebet auf die Kniee, und dann erfolgte die Züchtigung, oder sie versparte das Gebet auf die Zeit nach der Execution. Die Thränen und das Gebet der Mutter, die in aller Sanftmuth strafte, waren ihm unvergeßlich und drangen in sein Herz und ließen ihm keine Ruhe.


Ledderhose: Machtholf’s Leben und Schriften, S. 4-8 – 2. Krumme und gerade Wege

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Eingestellt am 9. September 2023