P a s t o r E r w i n G r o ß
g e b o r e n i n R i g a 2 4. S e p t e m b e r 1 8 7 0
g e s t o r b e n i n W e l i k i j e L u k i Februar/März 1920
Als junger Pastor der Landgemeinde Katlekaln, in der unmittelbaren Nähe Rigas, erlebte Groß die erste lettische Revolution. Den wilden Agitationen, die sich nicht genug tun konnten, Gott und den Kaiser zu lästern und Kirche und Geistlichkeit zu schmähen, trat er kraftvoll entgegen. Die vielen gegen ihn ausgestoßenen Drohungen beachtete er nicht und wahrte in allem kalte Ruhe, innerlich aber hat diese Zeit ihn doch stark zermürbt.
Er nahm 1907 mit Freuden einen Ruf an die mitten im Lande gelegene stille Pfarre von Roop an. Die Roopsche Gemeinde empfing den Deutschen mit einem gewissen Mißtrauen, das er durch treue Arbeit zu überwinden suchte, und erlebte die Freude, daß das Verhältnis sich immer mehr besserte. In seiner freien Zeit lebte er seiner theologischen Wissenschaft, sonderlich dem Studium der sozialen Probleme.
Nach sieben verhältnismäßig stillen Jahren hub der Weltkrieg an und damit die Leidenszeit. 1915 sollte er mit seiner Familie wegen „Germanophilie“ nach Sibirien verschickt werden. Der Befehl konnte im letzten Augenblick rückgängig gemacht werden. Je näher das Kriegsgetriebe nach dem stillen Roop kam, um so unerträglicher wurden die Verhältnisse. Die an sich schon erschütterten Nerven hielten der Erregung nicht mehr stand, aber immer wieder raffte er sich auf, zuletzt unterstützt von seinem treuen Adjunkten W. Grüner (s. S. 113). Die erste bolschewistische Welle hatte Groß schon gepackt, die einrückenden Deutschen brachten ihm die Freiheit. Kaum aber zogen die Deutschen ab, so fegte die zweite rote Sturmflut über das Land.
Groß glaubte ihr weichen zu müssen und floh im Dezember 1918 nach Riga, doch als auch dieses am 3. Januar 1919 in die Hände der Bolschewiken fiel, kehrte er sofort in seine Gemeinde zurück. Er predigte in Roop, wurde aber gleich darauf, am 16. Januar 1919, verhaftet und nach Wenden ins Gefängnis gebracht. Hier war die Haft in der ersten Zeit verhältnismäßig leicht, Groß konnte seinen Zellengenossen die Andacht halten und mit ihnen Choräle singen. In dieser Zeit hat er zu wiederholten Malen seiner Freude darüber Ausdruck gegeben, daß er im Gefängnis so viel wertvolle Menschen kennenlernen konnte. Über sein Geschick aber hat er nie geklagt.
Groß wurde vor ein öffentliches Tribunal gestellt; solches geschah, weil in der Wendenschen Gegend die Erbitterung des Volkes über die in geheimer Tribunalsitzung gefällten Todesurteile zu groß war. Dieser Volksstimmung nachgebend, hat das Tribunal nicht gewagt, Groß zum Tode zu verurteilen, sondern ihn als Geisel zurückbehalten. Am 12. Mai wurde Groß nach Nußland „in Sicherheit“ gebracht; damit beginnt der schwerste Teil seines Leidensweges. Er wurde von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt, um endlich in Welikije Luki, im Gouvernement Pleskau, definitiv interniert zu werden.
Seine Zelle war für acht Arrestanten berechnet, vierzig wurden eingepfercht. Eine Bretterdiele gab es nicht, nur einen Lehmboden, der durch allerlei Feuchtigkeit immer aufgeweicht war, auf diesem mußte geschlafen werden. Des Nachts stießen die lehmbeschmutzten Stiefel des einen Inhaftierten immer den andern in den Leib oder in das Gesicht, so eng war die Zelle. Groß war magenleidend; daß er bei der schlechten Kost sich noch aufrecht erhalten konnte, dankte er der Hilfe, die ihm Gemeindeglieder, die einst aus Roop nach Welikije Luki geflüchtet waren, und alte baltische Freunde, die in Rußland lebten und von seinem traurigen Geschick Kunde erhalten hatten, eine Zeitlang zukommen lassen konnten. Groß hat es noch besonders schwer dadurch gehabt, daß er im Sommer 1919, als es von Gefängnis zu Gefängnis ging, um sich Brot zu verschaffen, seine Winterkleider verkauft hatte, in der optimistischen Meinung, daß ihm bald die Freiheit werden würde. So mußte er den folgenden Winter nur mit einem Hemd und einem
Sommerüberzieher bekleidet zubringen, so daß er stark frierend unter dem Hunger ganz besonders schwer gelitten hat. Schließlich ist er am Hunger zugrunde gegangen.
Die einen sagen, es sei im Februar 1920 gewesen; ein Amtsbruder, der dasselbe Gefängnis geteilt, aber nicht die Möglichkeit gefunden, mit Groß zusammenzukommen, meint, es sei im März des Jahres 1920 gewesen. Doch gibt letzterer selbst an, daß im Gefängnis schließlich kein Gefangener mehr etwas Genaueres vom Kalender gewußt habe, so sind sie durch die Monate herumgeworfen und so sind sie hermetisch abgeschlossen gehalten worden. Groß‘ letztes Wort, das der Amtsbruder im Gefängnis von Welikije Luki vernommen, war der Schrei — „helft mir“ —. Groß stieß ihn aus, als er halb ohnmächtig von der Badstube kommend, von den Gefängnissoldaten gestützt, wieder in seine Zelle geschleppt wurde, die er dann nicht mehr lebend verlassen sollte. (67)
Quelle: Oskar Schabert, Pastor zu St. Gertrud in Riga: Baltisches Märtyrerbuch, Furche-Verlag. Berlin 1926. S. 186-188 [Digitalisat, pdf]