Eltern, Familienverhältnisse und Jugendleben bis 1813.

aus: Albert Knapp – Biographie von Ludwig Hofacker

Es gibt einzelne gottbegnadigte Menschen, deren Leben aus einem weit tieferen Geistesgrund erwachsen ist, als das vieler Millionen, und welchen daher insonders dann, wenn sie mit bedeutenden Gaben dem Reiche Gottes gedient, ihre Kraft in dessen Dienste verzehrt und viele Andere zur Gerechtigkeit gewiesen haben, ein besonderes Gedächtnis bei den Nachlebenden gebührt.

Dieses, nicht sowohl um ihrer selbst willen, obwohl wir wissen, daß des Gerechten Gedächtnis im Segen bleibt, und auch der große Apostel uns gebietet, zu erkennen. Solche, die mit vorzüglicher Treue an uns gearbeitet haben (1. Kor. 16, 18, 1. Thess. 3, 12), und obwohl aus solchem sogenannten Andenken der Späteren schon hier ein leiser Glanz des künftigen Offenbarungstages auf die Stirne solcher unvergeßlichen Gottesmenschen fällt. Nein, noch ungleich mehr um unser selbst willen geziemt es uns, die einzelnen Züge an dem Leben solcher begnadigten Pilger aufzubewahren, damit ihr liebes gesegnetes Bild auch nach ihrem Heimgange möglichst frisch unter uns bleibe, und wir mit ihnen so recht herzvertraulich, in lebendiger Anschauung fortleben, wie sie, teils in ihren Schriften, teils in ihrem anderweitigen Wirken noch unter uns fortreden, obwohl sie gestorben sind.

Bewahrt man doch das Porträt eines teuren Verstorbenen in der Familie mit allem Fleiß als ein Kleinod, und achtet es mit gutem Rechte für unveräußerlich, damit man durch das geliebte Bild immerfort an so viel Anderes erinnert werde, was uns mit dem entschwundenen Geist auf den Tag der Ewigkeit verbunden hält! Man empfindet hiebei das geistliche Verhältnis, worin wir Alle zu einander stehen. Wie schmerzlich würden wir eine genaue Biographie Luthers oder Zinzendorfs vermissen, wenn man dieselben entweder gar nicht besäße, oder sie unter dem Vorwand uns verbergen wollte, daß wir ja die Wirkungen ihrer Arbeit bereits kennen, und ihre Schriften in Händen haben! Wir würden uns nicht von der Sehnsucht abbringen lassen, auch ihr persönliches Geistesbild zu schauen, gleichwie dasselbe von dem Herrn selbst und seinen Aposteln uns in den Evangelien und in der Apostelgeschichte, wenigstens teilweise und im innersten Wesen, überliefert ist. Ebenso bleibt es bei vielen herrlichen Menschen der älteren Vorzeit ein schwer zu verschmerzender Mangel, daß die nähere Kunde von ihrem Lebensgange nicht aufgezeichnet worden, oder im nichtigen Sturme des Weltlaufs verschollen ist. Ihrer Viele,
wie segensreich würden sie unter uns fortwirken, wenn ihr geheiligtes Leben einen treuen, eifrigen Beschreiber gefunden hätte!

Wie Viel gäbe man um ein vollständigeres Lebensbild von Wittes, von Tauler, von Thomas von Kempis, von Johann Huß, und vielen Anderen, deren die Welt nicht Wert gewesen ist! Und wie dankbar empfangen wir heute noch spätere Forschungen, wodurch ein würdiges Menschenbild, das ein Licht seiner Zeitgenossen war, nach Jahrhunderten aus den Trümmern der Vorwclt zu Tage gefördert, und, gleich dem unbekannt gewesenen Gemälde eines erhabenen Meisters, unsrem jetzigen Geschlechte vor Augen gerückt wird! — Bei Menschen, die dem Reiche Christi unmittelbar gedient haben, kommt hiebei noch der besondere Umstand zur Sprache, daß man den Zeugen und Prediger des Herrn sehr gerne auch in seinem Privatleben sehen, und es geschichtlich erprobt sehen will, ob sein Herz und Wandel mit seinen Zeugnissen zusammenstimmt, — eine billige Forderung, weil wir von einem Menschen dieser Art erwarten, daß sein Zeugniß durch sein Leben, Leiden und
Sterben erhärtet werde, — wie dieses im heiligsten Sinne bei dem Heilande der Welt und bei allen wahrhaftigen Dienern Seines Wortes geschehen ist. —

Ich würde es für eine herrliche Arbeit halten, wenn in unsrer Zeit der Sammelwerke einmal auch eine von befähigten Männern sorgsam bearbeitete Galerie der besten Zeugen und Prediger unserer deutschen evangelischen Kirche versucht würde. Was wäre
da noch hervorzufördern aus dem Schutt, und welch einen Eindruck müßte es erzeugen, wenn eine solche festgegliederte Reihe von Zeugen vor das Angesicht unsres verkommenen Geschlechtes träte! Das aber ist kein Werk eines Einzelnen, sondern eines
brüderlichen Vereins, der die nötige Begabung, die reichlichsten Quellen und einen parteilosen evangelischen Geist besitzt. Man ergeht sich in so vielerlei Stoffen, woraus Conversations-Lexika gebildet und allgemeinere Bildungselemente weithin verbreitet werden. Warum findet sich im evangelischen Deutschland keine Verbrüderung zusammen, nach dem schönen Vorgang Einzelner einmal ein solches Volkswerk in gehöriger Fülle und im richtigen Ebenmaße zu beginnen, und nicht die herrliche Zeugenlegion der echten Kirche in zersprengten Gliedern hin und her zerstreut zu lassen, wo sie ihres Gesamteindrucks ermangeln müssen, sondern mit vereinigten Kräften ein Hauptwerk zu geben, das man, bei frommer, verständiger Einigung, vielleicht im Verlauf eines Jahrzehnts auf Jahrhunderte hinaus erzielen könnte?

Einen Beitrag zu einem Werke dieser Art enthält die nachstehende Lebensgeschichte meines liebsten, mir ewig unvergeßlichen Jugendfreundes, eines zuerst in den Jahren 1822—26 in Stuttgart ungewöhnlich besprochenen Mannes, der im Herbste des erstgenannten Jahres nach längerer Kränklichkeit als Vikar die Kanzel seines Vaters bestieg, und von dort an die Bevölkerung und Umgegend Stuttgarts auf eine Weise, wie seit Menschengedenken kein Anderer, zu seiner einfachen St. Leonhards-Kirche herbeizog. Wer seinen Lauf von Jugend auf kennt, wird auch darin die Herrlichkeit und Gnade des Gottes bewundern, der Dasjenige, das nicht ist, in’s Dasein ruft, und der seine größten Wirkungen nicht durch glänzende, vordringliche, in hohen Gaben und Würden schimmernde Geister, sondern durch die Demüthigen, mit Christo zu gleichem Tode gepflanzten, ihrer Schwachheit sich rühmenden Seelen zu vollziehen pflegt, weil Seine Kraft an solchen gerade sich am meisten verherrlichen kann, indem sie ihren Schatz in irdenen Gefäßen tragen, damit die überschwängliche Kraft sei Gottes, und nicht ihrer selbst. Wie wunderbar handelt Er, der Unerforschliche, hiebei mit den Seinigen! Ihr Leben ist mit Christo verborgen in Ihm, wird auch, seinem innersten Grund und seinen heiligsten Erlebnissen nach, verborgen bleiben bis auf den Tag der herrlichen Offenbarung Jesu Christi.

Und dennoch kann schon hienieden eine Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen bleiben, — dennoch reichen die stillen geistlichen Erfahrungen und Erzeugnisse solcher Stillen oft in weite Länder und ferne Zeiten hinaus, während viele Andere, die im Leben hoch dahergingen, nach ihrem flüchtigen Leben spurlos verschwinden. Ich hätte, mit meinem seligen Freunde, wenn er sich oft auf den untersten Grad des menschlichen Elendes herabgedrückt fühlte, nie geahnt, daß seine in so großer Schwachheit abgelegten Zeugnisse von Christo, dem Gekreuzigten, dereinst in einem Predigtbuch gesammelt erscheinen würden, das nunmehr in allen evangelischen Ländern in beinahe 80000 Exemplaren verbreitet ist, und sich nach 25 Jahren noch immerfort einer steigenden Nachfrage mit unberechenbaren Segnungen erfreut. —

Vor wenigen Jahren mußte es, was bei dem Predigtbuch eines jungen kränklichenMannes unerhört ist, stereotypiert werden, um allen Bestellungen zu genügen, die beinahe aus allen Ländern evangelischer Gesinnung, wo der Rationalismus seine tödliche Stickluft noch nicht verbreitet hat, noch immerfort und ungeschwächt ergehen. Man findet es nicht nur beinahe in allen christlichen Buchläden des südlichen Deutschlands, selbst bei den Buchbindern, sondern auch in Westphalen, Pommern u. s. f. in verschiedenartigem
Einbande, zum Gebrauche des Volks, so daß höhere und niedrigere Mitglieder der evangelischen Kirche sich das teure, vielerprobte Buch kaufen, wie z. B., um nur Eins anzuführen, ein edler Fürst, der mir’s selbst bekannte, diese Predigten seinen Hausgenossen als christlicher Hausvater vorzulesen pflegt. Sonderlich sollen im preußischen Staat viele Landleute das Buch als eine köstliche Nahrung für ihren Glauben bewahren, abgesehen davon, daß es in Würtemberg beinahe in allen christlichen Familien des Mittelstandes, zuweilen auch in höheren Regionen, nebst dem Bildniß des Unvergeßlichen, zu finden ist. Außerdem hat es sich, teilweise durch Uebersetzungen nach Frankreich und England, nach Dänemark, Norwegen und Schweden, Rußland und Nordamerika eine stets freiere Bahn gebrochen. —

Ich selbst, sein beinahe gleichaltriger Jugendfreund, der ihm das Höchste, Heiligste verdankt, was ein Mensch auf dieser Erde dem andern verdanken kann, lebe in meiner gesamten Denk- und Anschauungsweise, wenn auch die eigene Individualität nicht verleugnend, mit ihm durch die Jahrzehnte fort, und suche seine trefflichen Zeugnisse von der Gnade und HerrlichkeitJesu Christi auch auf meine Pflegebefohlenen in Schrift und Wort fortzupflanzen ,es tief empfindend, daß ein Mensch dieser Art durch seinen Glauben ewiglich fortwirkt, obwohl er in der Blüte seiner irdischen Jahre gestorben ist.

Schon im Jahr 1829 ward der Gedanke, sein Leben für die künftige Zeit möglichst aus eigener Anschauung zu beschreiben, in mir durch eigenen Trieb und anderweitige Bitten angeregt. Allein es gebrach mir an Mut zur Schilderung eines Lebens, dem das meinige an Hoheit und Tiefe so weit nachsteht, und sogar im Halbtraume kam es mir einmal vor, als ob ich mit einem Maurerpinsel das Bild meines seligen Freundes an eine ungehobelte
Bretterwand malte,— ein Gefühl, das mich im Innersten vor Gott demütigtc, und meinen Vorsatz auf viele Jahre hinaus verschob. Ich achtete mich nicht würdig, die Hand an ein solches Werk zu legen, und als späterhin das Verlangen nach einer Lebensskizze des Vollendeten von Anderen mehrfach gegen mich ausgesprochen wurde, ging ich nur mit schüchterner, zögernder Hand daran, und entwarf den ersten Teil derselben flüchtig für einen Jahrgang der Christoterpe, der vor etwa 10 Jahren erschienen ist, die beiden weiteren Abschnitte sodann für die folgenden Jahrgänge. —

Durch diese zerstückte Bearbeitung hat nun das Ganze einen wesentlichen Schaden erlitten, den ich leider nicht mehr völlig reparieren kann; denn es ist Einzelnes zu frühe, Anderes zu spät eingefügt worden, und ich müßte das Buch von vorne schreiben,
wenn ich alle Verstöße gegen die Zeitfolge genau verbessern wollte.

Da jedoch die äußerlichen Erlebnisse meines Freundes nicht den Kern, sondern bloß die Schale seines gottgeweihten Lebensgangs bilden, so habe ich mich begnügt, hier nur die bedeutenderen Punkte zu berichtigen, und gebe nun in diesen anspruchslosen Blättern teils die Selbstbiographie des Unvergeßlichen, soweit sie in seinen Briefen liegt, teils solche ergänzende Berichte, die ich teils aus eigener klarer Erinnerung, teils aus Mitteilungen teurer, verläßlicher Freunde und Zeitgenossen mit völliger Gewißheit geben kann.

Wilhelm Gustav Ludwig Hofacker wurde den 13. April 1798 als der dritte von sieben Brüdern, von welchen drei frühzeitig starben, in dem durch seine warmen Heilquellen berühmten Badeort Wildbad, einem Städtcken des würtembergischen Schwarzwaldes, geboren, wo sein Vater als Diakonus, und zugleich als Pfarrer von Calmbach angestellt war. Zur genaueren Kenntniß seiner psychischen Entwickclung und Bildung gehört eine
nähere Charakteristik seiner Eltern, von welchen, wenn mir eine nicht ganz antreffende Vergleichung erlaubt ist, der Vater mehr das alte, die Mutter mehr das neue Testament rcpräsentierte.

Der Vater, Karl Friedrich, geb. 18. October 1738, im Jahre 1798 von Wildbad als Pfarrer nach Gärtringen, bei Herrenberg, von dort im Jahre 1811 nach Oeschingen bei Tübingen, und im Jahre 1812, als Nachfolger des vom König Friedrich nach Oeschingen verwiesenen Stadtpfarrers  C. A. D a n n ,  auf die Stadtpfarrei zu St. Leonhard und das Amtsdekanat Stuttgart versetzt, starb daselbst am 27. Decembcr 1824 im kindlichen Glauben an den Sohn Gottes. Sein Leben verdiente eine besondere Beschreibung, die jedoch aus Mangel an fortlaufenden Datis nicht wohl zu geben ist. Man konnte an diesem echten Würtemberger von altem Schrot und Korn noch im Alter, wo ich ihn kennen lernte, gewahren, welch ein Jüngling diese athletische Gestalt von riesenhafter Muskulatur
gewesen sein mußte. Es schien, als hätte er eine Erbschaft der…

[wird fortgesetzt]

Zum Download der Biographie als pdf (externer Link zur HHU Düsseldorf)