Die steilsten Wege mußt allein du gehn (Zeller #70)

Die steilsten Wege mußt allein du gehn,
Ob du allein, ob Tausend um dich stehn.
Die liebsten Freunde ziehen von uns fort,
Sei es für immer, sei’s von Ort zu Ort.
Der letzte Liebesruf, der dir erscholl,
Was ist er, als das letzte Lebewohl?
Doch klingt er dir in tiefster Tiefe nach,
Wenn schon dein Aug‘ für diese Sonne brach.

Die Treu’sten stehn am Ufer festgebannt,
Dein Schifflein schwebt zum unsichtbaren Land,
Es brennt ihr Herz voll Lieb‘ und Traurigkeit,
Wie gerne gäben sie dir das Geleit!
Wohin du jetzt gehst, können sie nicht gehn.
Wann werden sie dein Antlitz wiedersehn?
Wer hat mit deinem Heiland einst gewacht
In seiner schwersten, längsten Leidensnacht?

Als er gerungen mit dem tiefsten Weh,
Dort in dem Garten zu Gethsemane?
Wer starb mit ihm, als er am Kreuze hing
Und in den Tod für seine Brüder ging?
Allein hat er den letzten Gang gemacht,
Allein den Kampf, allein sein Werk vollbracht.
Sel’ger Trost! Wer ist nun noch allein
In jeder Lebens-, jeder Sterbenspein?

Er hat’s durchlebt bis in den tiefsten Grund;
Erbebend sprach es sein erbleichter Mund:
„Allein, verlassen, o mein Gott! mein Gott!“ –
Die Freunde stumm, und laut der Feinde Rott‘! –
Kein Menschenherz, das liebste nicht gewährt,
Was all dein Sehnen fort und fort begehrt;
Nur Gott allein füllt eine Seele aus,
Im Himmel nur bist gänzlich du zu Haus!

Liedtext: Albert Zeller (1804-1877)

Quelle: Albert Zeller, Lieder des Leids, S. 145f. (Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1865) [Digitalisat]

Eingestellt am 16. März 2023