Hoffnung für Gefangene (Psalm 126, Traugott Hahn)

«Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. Herr, bringe wieder unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Mittagslande. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben» (Psalm 126)

«Wir lehren euch hoffen.» Dies Wort bezeichnet so recht das Wesen aller wahren Geistesgrößen der Geschichte, vor allem auch der Bibel. In ihr jedoch ragt unser Psalm hervor als das hohe Lied der Hoffnung. Ein echtes Lied ist es, so voll Harmonie, geeignet, auch im neutestamentlichen Gottesvolk, selbst den Allergebeugtesten, immer wieder Hoffnung ins Herz hineinzusingen. Suchen wir doch im Herzen oft, oft dem Herrn zu singen. Hineinsingen will es uns ins tiefste Herz die ewige Wahrheit, daß die Gefangenen Zions hoffen dürfen auf eine endliche, herrliche Lösung aller ihrer Nöte. 1)

1) Gehalten am 6. Dezember 1915 in der St. Olai-Kirche in Reval, als zwei Pastoren dieser Gemeinde in der Verbannung in Sibirien weilten und der dritte eben einer Krankheit erlegen war.

I.

Wir fragen zunächst: Wer darf immer hoffen? Nicht alle Unglücklichen. Es wird heute so entsetzlich viel sinnlos, aussichtslos gehofft. Nicht ernst genug kann man da mahnen: Seid mannhaft und hängt euer Herz nicht an solche ganz unsichere Hoffnungen.

Es gibt nur eine, immer gewisse Hoffnung. Die dürfen aber – ob ihr es nun annehmen wollt oder nicht – nur die Gefangenen Zions haben. Ursprünglich hieß das: Die Angehörigen des alttestamentlichen Gottesvolkes, die sich zu dem Jerusalem am Zionsberg, zum Hause Gottes und seinen Verheißungen hielten. Das besagt neutestamentlich: Gewisse Hoffnung haben auch heute nur alle, die zum Volke Gottes gehören. Fassen wir das nur recht weit: Es sind die, die mit und in Christus leben, leiden und sterben wollen; alle, denen es Herzenssache und Lebensaufgabe ward, daß Gottes großes Weltwerk der ewigen Wahrheit und des Guten sich durchsetze.

Nun heißt es aber im Psalm: «Die Gefangenen Zions». Das bedeutet, das ganze Volk Gottes darf hoffen und selbst seine Gefangenen. Wer sind das?

Denken wir zunächst an mancherlei Gemeinwesen, die göttliche Kräfte und damit göttliches Daseinsrecht in sich tragen. Aber ach – sie leben in einer Umwelt, die sie allenthalben bindet, eine freie, gesunde, volle Entwicklung hemmt, ja unmöglich macht. Viele fühlen: Was könnten wir unter anderen Verhältnissen leisten, wenn wir nicht Gefangene wären!

Eine fraglos viel schwerere Gefangenschaft aber ist es, wenn die wahren Gottesdiener in einer Gemeinschaft, etwa einer Kirche, ihren guten Willen gebunden sehen durch innere Verhältnisse, wie zum Beispiel durch den alles vergiftenden Geist eines fleischlichen Nationalismus, oder einen zur Macht gelangten niedrigen Erdengeist, etwa eine krankhafte Zweifelsucht, die auch sie ansteckt, und sie kommen nicht los, soviel sie auch dawider ringen. Denn auch der gute Kern der Gemeinschaft ist mit gefangen in diesem Geist.

Und nun erst die einzelnen Gefangenen Zions, ihre Zahl ist heute unzählbar. Ich denke an
im tiefsten Herzen Gläubige, die aber gefesselt sind von unglücklichen, ihre Kraft übersteigenden Familien- oder Berufsverhältnissen, von denen sie nicht los können, und durch welche es zu keinem rechten Christen-, ja Menschenleben bei ihnen kommt, wie sie es von Herzen erstreben und ihr Gewissen es fordert. Aber auch bei den einzelnen ist es noch viel schlimmer, wenn trotz eines im Keim erneuten Willens und eines starken Glaubens zu Gott empor innere Gebundenheit durch eine kranke Natur oder durch einen unglücklichen, schweren Charakter vorherrscht. Oder denken wir an alle, die danieder gehalten sind von einem schweren Geist der Traurigkeit, der durch viele schreckliche Erfahrungen über sie gekommen ist. Ob man auch Jahrzehnte damit gekämpft, man
kann seine Natur nicht ablegen.

Und nun erst die einzelnen Gefangenen Zions, ihre Zahl ist heute unzählbar. Ich denke an
im tiefsten Herzen Gläubige, die aber gefesselt sind von unglücklichen, ihre Kraft übersteigenden Familien- oder Berufsverhältnissen, von denen sie nicht los können, und durch welche es zu keinem rechten Christen- ja Menschenleben bei ihnen kommt, wie sie es von Herzen erstreben und ihr Gewissen es fordert. Aber auch bei den einzelnen ist es noch viel schlimmer, wenn trotz eines im Keim erneuten Willens und eines starken Glaubens zu Gott empor innere Gebundenheit durch eine kranke Natur oder durch einen unglücklichen, schweren Charakter vorherrscht. Oder denken wir an alle, die danieder gehalten sind von einem schweren Geist der Traurigkeit, der durch viele schreckliche Erfahrungen über sie gekommen ist. Ob man auch Jahrzehnte damit gekämpft, man
kann seine Natur nicht ablegen. Gehören wir am Ende heutzutage nicht alle in der einen oder anderen Weise zu den Gefangenen? Ob aber auch zu den Gefangenen Zions? Doch denken wir nicht nur an uns.

Zum Ergreifendsten in unserem Psalm gehört das Wort: «Herr, bringe wieder unsere Gefangenen!» Die Gefangenen beten für andere Gefangene. Diese Zeit soll uns lehren, Mitgefühl zu haben mit allen Gefangenen, auch den Unzähligen, die im schrecklichsten Unglück sind, äußerlich ihrer Freiheit und ihrer Wirkungsmöglichkeit beraubt in einer Zeit, wo sie so nötig gewesen wären und wo man so viel wie nie wirken kann. Erschütternd aber zeigt uns diese Zeit, wie furchtbar die ganze Christenheit und all das in den christlichen Völkern sicher vorhandene göttliche Gute dämonisch gebunden und danieder gehalten wird. Ja, entsetzen wollen wir uns darüber, aber vor allem – dazu helfe Gott! – das Herz weit, weit auftun in Mitleid und Erbarmen zu all den Hundertmillionen Gefangenen.

II.

Und nun all ihr Gefangenen Zions! Laßt das alte Lied es euch tief in die Seele hineinsingen: Du darfst dennoch hoffen! Es kann und soll eine große Wendung kommen: «Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.» – Wir haben es doch erlebt als Tatsache. Der Weltenlauf bleibt nicht immer gleich. Lange scheint es so, als verlaufe alles nach unveränderlichen Gesetzen und als wären alle Besserungsversuche ganz vergeblich. Aber dann zeigt sich mit einem Mal, daß einer am Steuer der Welt und des Einzellebens sitzt: Gott ist es. Der greift plötzlich in das Rad der Welt- und Lebensgeschichte ein, kehrt es um und zwingt die Welt oder das Lebensschiff oft heilig hart und machtvoll in eine unerwartete, neue Richtung. Auf diesen Gott darf jeder Gefangene Zions rechnen. Einmal wird es bei jedem, wie es hier heißt, erklingen: «Der Herr hat Großes an uns getan.» So dürfen auch wir zuversichtlich hoffen: Gott hat Großes mit uns vor. Das Senfkorn,
das er in uns gelegt, kann er gar nicht umkommen lassen, mag es auch lange verborgen keimen. Auf was für eine Erlösung jedoch dürfen wir hoffen?

Sicher meint unser Psalm zunächst eine irdische, geschichtliche, wie sie bald darauf für Israel durch Cyrus kam, den Knecht Gottes, wie ihn das Buch Jesajas nennt: Gott, als der Herr des Weltalls, kann auch heute noch die gefangenen Völker wie die einzelnen erlösen durch eine gewaltsame Veränderung aller Verhältnisse und Schöpfung einer neuen Weltordnung. Das ist ihm ein geringes.

Und doch, sagen wir es uns ganz klar und energisch: Die eigentliche Erlösung, die Zions
Gefangene brauchen, ist das nicht. Viel nötiger ist die Erlösung von den inneren Banden und krankhaften Zuständen. Auch von ihnen will Gott erlösen, und zwar schon auf Erden. Das sei energisch betont. Und das nur durch den, der in Bethlehem uns geboren ward, durch den einzigen Erlöser der Menschheit. Wenn doch auch in dieser Zeit alle Gefangenen sich ihm zuwendeten! Wir lesen von ihm das Wort: «Es ging Kraft von ihm aus und alle, die ihn anrührten, wurden gesund» (Lukas 6, 19). Suchten doch alle,
auch heute, mit ihrem Herzensgrund ihn selbst zu berühren, seinen Geist in jedem seiner Worte oder im Leben seiner wahren Jünger. Jedes Mal, wo das gelingt, geht von ihm auf die mit ihm sich berührende Seele wahrhaft erlösende Kraft aus: Glaubenskraft, Liebeskraft, Energie des Guten.

Dann fallen diese oder jene Bande, wenigstens für eine Zeit, und der gefangene Geist kann sich freier bewegen und wachsen. Auch der Leib kann Lebensenergie von ihm empfangen. Aber wir brauchen diese Berührungen fortgesetzt, und jedes Mal verspürt die Seele dabei, wie Wundervolles das Wort besagt: «Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.»
Aber seien wir wieder ganz nüchtern. Denken wir etwas an Bodelschwinghs Zionskirche in
Bethel. Da steht in großen Buchstaben über dem Altarchor:

«Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.»

Und was ist die Christengemeinde darunter? Fast lauter unheilbar Epileptische und Blöde. Bleibt es nicht oft auf Erden dabei: Erlöst und doch gefangen? Am Ende wird das unser aller Los sein im einen oder anderen Sinne? Und denken wir an alle, die durch Sterben fortmüssen, ohne eine Wendung der schier verzweifelten Verhältnisse zu erleben! Darum stimme die neutestamentliche Gemeinde, so oft ihr Herz dies Hoffnungslied singt, ihre Seelenharfe noch viel höher und grüße die einzig volle Erlösung des Herrn, der das gute Werk, das er begonnen hat, ausgestalten will, innerlich wie äußerlich. Sie grüße den Tag der Ewigkeit, der einst anbrechen wird, wo Gott den Tod senden und die Seele befreien wird von Verhältnissen und einer Natur, die vielen ein Kerker blieb. Unser Gotteslied will unser Herz wie in Liebe, so auch in Hoffnung weit, weit auftun. Hoffe für alle Gefangenen deines Gottes auf seine Gnade und Barmherzigkeit. Hoffnungsgrund ist uns die geheimnisvolle, sieghafte Erlösungsmacht unseres Erlösers Christus. Schön hörte ich neulich sagen: «Dieser Psalm lehrt Hoffnung für Hoffnungslose, und selbst für hoffnungslos gebundene Seelen, für hoffnungslos verdorbene Völker.»

In vielen Fällen kann ich mir zwar den Weg nicht denken und kann doch als Christ nicht anders, als zu Gott hoffen. In Jesus ist ja Geistesmacht, alle finsteren Gewalten zu brechen. Warum es oft nicht dazu kommt, weiß ich nicht. Aber diese Christusmacht kenne ich, und ihr traue ich. Auf sie hoffe ich nicht nur für die Gefangenen Zions, sondern für alle, alle Gebundenen der Menschheit. Gott will sie alle erlösen.

Und nun, Gefangener Zions! Du im Innersten Glaubender, den es so verlangt, als nach dem Größten, mit ganzer Kraft kindlich-heldenhaft zu glauben, den aber seine Grüblernatur mit ständigen Zweifelsanfechtungen bisher nie dazu kommen ließ –, wie wird’s sein, wenn du von dieser Natur gelöst sein wirst, endlich voll wirst glauben und dich Gott ganz hingeben können? Und du nach Heiligung, nach völligem Gutsein Dürstender, wie wird es sein, wenn der Herr dich endlich ganz erlösen wird von deinem Dämon, deinem leidenschaftlichen, alles Gute verderbenden Temperament! Wie wird es sein, dann ungehemmt, das heißt ganz gut leben zu können! Erlöst von Gott für Gott, um liebend in Gottes Liebe ewig zu leben und eine große Menschheitserlösungszeit miterleben zu dürfen! Fühlst du es nicht:

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden? Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein!

III.

Ja, es gibt nichts Wichtigeres, als unsere Seelen erfüllen zu lassen von dieser Hoffnung nach der Erlösungszeit. Aber gehen wir nicht darin auf. In seinen herrlichen Schlußversen weist uns der Psalm doch wieder an, festzustehen mit beiden Füßen in der traurigen Gegenwart der Gefangenschaft, um in ihr zu arbeiten und zu schaffen. Das laß dir auch gerade jetzt aufs Gewissen legen: Arbeiten und nicht verzweifeln. Das ist zugleich etwas Befreiendes. Leiden und leidvolle Zeiten sind nur erträglich und gesegnet, wenn wir angespannt arbeiten. Mag dein Kerker noch so eng sein, Raum zum Arbeiten, zu wichtigem Wirken bietet er doch. Auch gerade dann, wenn du von Leiden ganz gefesselt bist und oberflächlich geredet nichts mehr leisten kannst. Säemannsarbeit tun, Einflüsse aussäen, gute Eindrücke ausstreuen kannst du jede Stunde. Und darum laßt auch uns wirken unermüdlich Tag für Tag, tätig oder leidend, ob das Herz auch zum Zerbrechen schwer wird und das Stillsitzen, Weinen und Sorgen einem viel näher läge. Ja, weine nur, wie unser Jesus über Jerusalem, und schäme dich nicht heiliger Tränen in dieser Zeit, wo wirklich entsetzlich vieles zum Weinen ist. Raffe dich dann aber immer wieder auf und gehe an die Arbeit, auch wenn du dich dazu zwingen mußt!

Aber sorge auch für edlen Samen. Wenn ich aber selbst nicht edel bin? Nun, vernimm erlösendes Evangelium: Gott selbst bietet dir allezeit edlen Samen zum Ausstreuen an. Du brauchst dazu nichts Besonderes zu leisten. Lass nur den Geist Jesu in deiner schlichtesten Pflichterfüllung Wollen und Vollbringen wirken. Und dann wisse: Tränenzeiten sind an sich geeignet, schlichtes Tun wie Leiden zu edelstem Samen zu machen. Wie wirkt auf uns jede tieftrauernde Seele oder jeder sieche, von Schmerzen gequälte Mensch, der dennoch stark und friedevoll, für alle anderen teilnehmend bleibt und vielen Gesunden und Glücklichen ein Halt ist. Unmittelbar spüren es alle:
Jede solche Tat wiegt hier hundertmal mehr als die ganz gleiche bei einem Gesunden und Frischen.

Und wie fällt in schwerem Leid, ganz von selbst, alles nur Oberflächliche, nur Scheinende ab, auch alle nur gefühlvolle Begeisterung, und es bleibt nur ganz schlichte, gewissenhafte, willensstarke Pflichterfüllung. Wie edel ist das! Ja, ist das nicht das Edelste auf Erden, das Verhalten der reinen, heiligen Geduld, wie das unermüdliche, treue, gehorsame Wirken der Liebe auf Hoffnung, wo man jahrelang und länger nichts als Undank, ja Verfolgung erntet. Hoffnungslose Geduldsarbeit ist der edelste Gottessame. Aber nur, wenn sie, obgleich unter Tränen, doch hoffnungsvoll getan wird. Vor Gott ist Tränensaat das alleredelste. Er kann sie gar nicht verloren gehen lassen. Er läßt sie zwar verborgen und langsam wachsen, aber er wird sie dennoch Halme, Ähren und schöne Früchte hervorbringen lassen. Wir sollten freilich nicht so sehr nach Erfolgen trachten.

Aber rechte Liebe will doch auch nicht vergeblich auf Gottes Weltacker arbeiten, sondern Früchte zeitigen. Mit Recht gehört darum zum Schwersten im leiblichen wie geistigen Gefängnis der Eindruck, unfruchtbar zu sein; zum Herrlichsten die Christenhoffnung aber, darauf rechnen zu dürfen: Einst am Tage der ewigen Ernte wird vielen Gefangenen eine besonders schöne, große, reife Garbe übergeben werden. Die entwuchs gerade ihrer Gefängniszeit. Wenn wir dann doch alle mit Freuden als die Träumenden erkennen könnten: Auch meine Gefängnisjahre waren furchtbar, ungeahnt fruchtreich für die Ewigkeit.

Amen.

Pfarrer Traugott Hahn (1875-1919)

Quelle:

Pfr. Prof. Traugott Hahn: Glaubet an das Licht, C. Bertelsmann, Gütersloh, 1925
Externer Link: Schriftenarchiv [pdf-Fassung]/ Hrsg.: Bibelgruppe Langenthal


Weitere Betrachtung zu Psalm 126 von Theodor Schmalenbach

Eingestellt am 16. Dezember 2024