Gethsemane
Betrachten wir das Erlösungswerk nach seiner Länge, Breite und Tiefe und Höhe, so wundert es uns nicht mehr, daß es eine 33jährige Zubereitung erforderte. Jesus war ein vollkommen zubereiteter Hohepriester. Er wußte, was nach den Rechten der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes noch geschehen musste; daher ging er nicht an dieses große Werk, wie wir an unser Geschäft gehen. Er sprach den Lobgesang und die Abschiedsreden (Joh. 14-17), aus denen man sieht, daß er einen Durchblick in’s Ganze hatte.
Auf dem Weg nach Gethsemane sagte er seinen Jüngern, was er ihnen bisher noch nicht gesagt hatte, nämlich, daß sie sich alle an ihm ärgern werden. Sollte man das für möglich halten? Sind aber die Aergernisse indessen verschwunden? Sind sie eine ganz unbekannte Sache? Bei Anfängern, die erst erweckt worden sind, kommen sie gewöhnlich nicht vor. Aber im Fortgang der Bekehrung, wenn sich rechtlicher Weise Übungen einstellen, kommen sie zum Vorschein. Jesus sahe zum Voraus, daß es bei seinen Jüngern so gehen werde, weil sie hohe Begriffe hatten, und von diesen mußten sie herunter. So hoch hinan, so tief hinab; so hoch geachtet, so tief verachtet. So geht es noch jetzt bei Allen, die sich bekehren wollen. So lange es keine Uebungen gibt, solange geht alles gut.
Sobald aber Gedulds-, Demütigungs-, Verläugnungsübungen etc. kommen, so ärgern sich Viele und weichen zurück. Aber um ein solches Christenthum gebe ich Nichts. Man kann ja bei einem Hunde oder bei einer Katze Anhänglichkeit zuwege bringen – man darf ihnen nur geben, was sie wollen. Hält man sie aber in der Zucht, was ja bei diesen Thieren auch notwendig ist, so merkt man bald, daß sie auch eigenliebig sind. Man kann sich an Andern zunächst äußerlich ärgern, wenn man in Uebung mit ihnen kommt. Da muß man aber in sein eigen Herz gehen und denken, das was der andere in mir erweckt hat, hat er nicht in mich hineingebracht, es war vorher schon in mir; es ist nur erweckt worden, daß ich es überwinden soll. Aber man meint eben oft, Andere sollten ihre Unarten ablegen. Nein, du sollst zuerst deine Unarten ablegen. Der, welcher dich übt, ist dir von Gott dazu hingeordnet, dir deine Unarten zu zeigen, er soll dich putzen.
Aber da ist man sehr empfindlich; es geht einem wie den Kindern, welche die Mutter von allerlei Unreinigkeiten reinigen will, die über diesem Geschäfte oft schreien wie Mordbrenner, als ob ihnen das größte Unrecht geschähe.
Der andere wird dann auch wieder seinen Putzer bekommen; – Gott hat viele Putzmägde; sie haben aber gewöhnlich keine königlichen Kleider an. Auch ich bin schon von Leuten geübt worden, die zwanzig Stunden weit herkamen. Da dachte ich, warum das? Ich hätte ja genug Leute in der Nähe zum Ueben. Aber ich fand, daß keiner es hätte so gut thun können, wie dieser aus der Ferne!
Wer freilich der Zucht immer treu wäre, der bräuchte nicht so viele Putzer. Wer nun diese äußern Aergernisse nicht überwindet, der ärgert sich auch an den innern Führungen Gottes, wenn er ihm sein Licht, seine Gnade, seine Liebe entzieht. Es ist mir lieb, daß ich an diese Materie komme. Ich kann mir seit vierzig Jahren Christen denken; diese waren aber nicht so verzärtelt und verweichlicht, wie die jetzigen Christen. So lange man nicht ernstlich redet, so lange ist es gut; so bald man aber eingreifende Wahrheiten vorträgt, so weichen sie zurück und zucken, wie jene Jünger, von denen es heißt: „Sie wandelten fortan nicht mehr mit ihm,“ [Joh. 6, 66] weil sie mehr Unlauterkeit als Lauterkeit hatten.
Der heutige verweichlichte Zeitgeist wirkt auch auf das Christenthum ein.
Heutzutage haben die Christen viel mehr Mittel, als in früherer Zeit; aber damals benützte man sie umso treuer. Es geht den heutigen Christen wie manchen Kindern der Reichen, die überall Leckerbissen herumstehen haben, wo sie vom einen zum andern laufen und gar nicht zum Hunger kommen, weßwegen sie auch am Tisch nicht essen mögen. Ich dachte schon oft, ich würde solche Kinder schon essen lehren, – ich gäbe ihnen den ganzen Tag Nichts; dann würden sie zuletzt eine ungeschmälzte Wassersuppe essen.
Der Christ soll durch’s Gebet immer wieder den Hunger erwecken- Die Aergernisse sind eine allgemeine Krankheit, die Vielen den Tod bringt.
Den Kampf in Gethsemane müssen wir so betrachten: erstens, daß Jesus an der Stelle der ganzen Menschheit dastand, und zweitens, daß sein ganzes Leben die Vorbereitung dazu war. Adam trennte sich zuerst innerlich in der Lust, im Willen, von Gott; daher mußte Jesus zuerst innerlich leiden.
Jesus sagte: „Ich thue nicht meinen Willen“; also hatte er auch einen eigenen, menschlichen, kreatürlichen Willen. Diesen seinen eigenen, persönlichen Willen hatte er bisher schon beständig geopfert; nun sollte er in concentrirter Weise den Eigenwillen der ganzen Menschheit überwinden, der in Haushaltungen, Ortschaften und Ländern schon soviel Unheil angerichtet hat. Und diesen opferte er jetzt. Wie herzlich, kindlich, einfältig und demüthig war dabei sein Gebet!
Wir kommen stolz und eingebildet, meinen wunder was es sei mit unserem Beten; meinen, Gott sollte augenblicklich uns unsern Willen erfüllen, statt daß wir uns verkriechen sollten. Aber „was durch seine Hand nicht gehet, wird von ihm auch nicht erhöhet“. Solche stolze Gebete, die nicht vom Geist Jesu gewirkt sind, können nicht erhört werden; sie kommen nicht einmal vor Gott.
Jakobus sagt: „Ihr bittet, und kriegt nichts, darum daß ihr übel bittet.“ Etwa bittet ihr für eure Weichlichkeit, Zärtlichkeit und Trägheit, oder daß ihr es in euern Wollüsten verzehret. Solche Gebete sind oft nur ein bloßes Nachschwätzen dessen, was man oft gehört oder gelesen hat. Bei diesem Kampf, in welchem Jesus den Eigenwillen der ganzen Menschheit, von Adam an bis auf den Letzten überwinden mußte, darf es uns nicht wundern, daß er blutigen Schweiß schwitzte. Hier galt’s, und das wußte er. Wäre er hier schwach geworden, so wäre es um uns geschehen gewesen. Auch der Teufel wußte das.
Jesus durfte nicht gestärkt werden durch besonders kräftige Einwirkungen Gottes, sonst würde der Teufel in Ewigkeit Einwendungen machen. Erst als der Wille geopfert war, und als die Hölle wahrscheinlich zu weit gegangen wäre, durfte er von einem Engelfürsten gestärkt werden. – Es kostete etwas, bis der Verwesungsgeist, der ihn ergreifen wollte, ihm Nichts anhaben konnte!
Nun darf Keiner, der eine besonders starke Portion Eigenliebe, Eigenwillen, Neid, Zorn, Wollust, unreine Liebe etc. spüren muß, darüber sich beklagen, daß es bei ihm gar zu arg, und deßhalb die Ueberwindung unmöglich gewesen sei. Nein, hier hat dein Heiland schon Alles für dich überwunden, Alles das ist auf ihm gelegen.
Jetzt ergreife im Glauben die Gnade und Kraft, die er dir hier erworben hat. Solchen Klägern werden in jener Welt Leute entgegengestellt werden, die gerade mit dem Nämlichen zu kämpfen, und die darin überwunden hatten. – Aber nur Jesus steht es zu, zu sagen: Du bist ein Ueberwinder – uns nicht. Wir dürfen dies nicht zu uns selbst sagen. Was in uns ist, das ist Gnade, also nicht Verdienst.
(1845)
G. Immanuel Kolb: Nachgeschriebene Gedanken
aus: Kurzer Lebensabriss von Immanuel Gottlieb Kolb, Schulmeister in Dagersheim, nebst einer Sammlung von Betrachtungen, Briefen etc., S. 258-262. Von seinen Freunden herausgegeben. Fünfte Auflage, Dagersheim, zu haben bei Gebrüder Ziegler, 1868