Einleitung in die Augustana, Band 1 (G. L. Plitt)

Luthers erste Entwicklung 1)

Luther stammt aus einer Bauernfamilie im Herzen Deutschlands. Aus der Mitte des Volkes ging er hervor und er hat diesen seinen Ursprung nie vergessen. Er war ein Deutscher durch und durch und hing mit aller Liebe seines Herzens an seinem Volke, dessen Heil die Arbeit seines Lebens galt. Er fühlte mit ihm und kannte seine Bedürfnisse; seine Sprache verstand er und konnte darum auch wieder zu ihm in einer verständlichen Sprache reden wie kein Anderer. Mit allen natürlichen Gaben, welche zu einem durchgreifenden Einflusse auf ein ganzes Volk befähigen, war er in hohem Maße ausgerüstet. Und diese vielseitige Begabung sowie die ganze Frucht angestrengter Arbeit ward dann unbedingt in den Dienst des Reiches Gottes gestellt 2).

1) Die Jugendzeit und das erste Mannesalter Luthers ist in neuerer Zeit, wie dies in jeder Beziehung nötig war, mannigfach Gegenstand eingehender Untersuchungen geworden; besonders hat man sich bemüht, seine Lehranfänge, soweit die vorhandenen Quellen dies gestatten, darzulegen. Ich verweise auf  J ü r g e n s, Luthers Leben Bd. 1-3, wo mit großem Fleiße das hierhergehörige Material gesammelt und bearbeitet ist.  D i e c k h o f f,  Luthers evangelische Lehrgedanken in ihrer ersten Gestalt, Deutsche Zeitschrift f. christl. Wissensch. u. christl. Leben, 1852, S. 130-147.
Derselbe, Luthers Lehre von der Gnade, Theologische Zeitschr v. Dieckhoff und Kliefoth, 1860, S. 633-729; 1861, S. 1-99 und 183-242; diese letzten Artikel entbehren wegen großer Breite der Uebersichtlichkeit und zerlegen und zergliedern Luther zu sehr mit dem Seziermesser dogmatischer Kritik.  H a r r i e s, Luthers Lehre bis zum Jahr 1517, Jahrbb. f. deutsche Theologie, 1861, S. 714 ff.  K ö s t l i n,  Luthers Theologie 1, 3-179; letztere Behandlung ist die beste, besonders weil sie am meisten beachtet, daß Luther nicht ein Mann der Schule war.
2) Prosper von Aquitanien sagt Opp. edit. Paris. 1711 pag. 126 in carm. de ingratis v. 9-298 von Augustin:
__quem Christi gratia cornu
uberiore rigans nostro lumen dedit aevo,
accensum vero de lumine nam cibus illi
et vita et requies Deus est, omnisque voluptas
unus amor Christi est, unus Christi est honor illi.
Et dum nulla sibi tribuit bona, fit Deus illi
omnia et in sancto regnat sapientia templo.
Dies gilt gleichermaßen auch von Luther.

Gottesfurcht herrschte in der Familie, in welcher Luther aufwuchs. Vater und Mutter waren von Herzen fromm und wachten mit heiligem Ernste über die Seelen ihrer Kinder. In ihrer Zucht überwog Strenge die Liebe; der Sohn lernte Gehorsam, ward aber eingeschüchtert.  Die Schule setzte in beider Hinsicht diese Einwirkungen fort, so daß es in dem Knaben nicht zu freierer Entwicklung eines eigentümlichen Charakters und selbständigen Willens kam, er vielmehr an Selbstvertrauen bedeutend verlor. Sein religiöses Leben stand ganz unter der Pflege und dem Einflusse der Kirche; hier am wenigsten dachte er selbst daran eigne Wege zu gehen, und es läßt sich keine Spur davon nachweisen, daß irgend Jemand den Versuch gemacht hätte, ihn in Widerspruch mit der Kirche zu bringen. In einfältigem und demütigem Gehorsam gab er sich ihr ganz hin, ohne nur den Gedanken zu haben, daß man von ihr abweichen könne; er war ihr getreuster Sohn. Ein Grundzug in dem Streben schon des Knaben war die Sorge für das Heil seiner Seele; er wollte fromm werden. Dies war auch sein erster Gedanke, als er 1501 die Universität Erfurt bezog 1).  Hier betrat er ein neues Lebensgebiet; Verschiedenartiges wirkte auf ihn ein, aber durch Nichts ward er in seiner bisherigen Gesinnung gegen die römische Kirche wankend gemacht.  Von seinem Vater für einen weltlichen Beruf bestimmt, schlug er den gewöhnlichen Unterrichtsgang ein. Die erste Zeit war den humanistischen und philosophischen Studien gewidmet; allein wenn ihm auch überraschende Erfolge darin nachgerühmt werden, so kann sein Eifer doch nicht so groß gewesen sein, wie man ihn sonst in den eigentlich humanistischen Kreisen zu finden gewohnt war. Die seltene, damals in Erfurt durch Nikolaus Marschalk gebotene Gelegenheit, das Griechische zu erlernen, benutzte er nicht 2), und auch sein lateinischer Stil, wenn er gleich fließend und verständlich ist, kann doch, was Reinheit und Feinheit

1) Die Angaben von  J ü r g e n s  über Erfurt und die dortigen Verhältnisse, 1, 302 ff., sind zu ergänzen und teilweise zu berichtigen durch das, was Kampschulte mitteilt in seiner trefflichen Schrift: Die Universität Erfurt in ihrem Verhältnisse zu dem Humanismus und der Reformation, 1858-1860. Besonders die Stellung der Erfurter Theologen zum Humanismus ist von K. richtiger geschildert.
2) Kampschulte, a. a. O. 1, 52, 58.  An den Klassikern, mit denen er auch später noch eine nicht unbedeutende Bekanntschaft bekundete, fesselte ihn weit mehr der Inhalt als, wie bei den Humanisten oft der Fall war, die schöne Form.

Quelle: Einleitung in die Augustana, Band 1. Von Gustav Leopold Plitt. 1867. [Digitalisat]


Eingestellt am 15. Juni 2025