An einem Sommertage hatten
Sie unter eines Kirschbaums Schatten
Gedeckt des Doktor Luthers Tisch;
Ein schöner Ast, so grün und frisch,
Hing von den reifen Früchten schwer
Gar saftig übern Tisch daher.
Wie prachtvoll war das anzuschauen!
Es thät sich männiglich erbauen;
Zumal Herr J o n a s konnt‘ nicht enden,
Dem Schöpfer reiches Lob zu spenden,
Wie er doch alles gut gemacht,
Auf’s Schönste alles hat bedacht.
Da sprach der Luther: „Wohl mit Recht
Lobt Ihr den Schöpfer: doch ich dächt‘,
Es geb‘ noch eine schön’re Frucht,
Als die man an den Bäumen sucht:
Da seht die Kindlein, wie sie blühen,
Sie reifen, sie wachsen ohn‘ all unser Mühen;
Gott, der sie gebildet im Mutterschoß,
Zieht sie in seinen Armen groß.
Am Leibe fügt sich Glied an Glied
Noch schöner, als man’s an Bäumen sieht.
Und wenn der Geist erst bricht hervor
Aus seiner Knospe lichtem Thor
Und allgemach zum Tag erwacht,
Zeugt das nicht auch von Gottes Macht,
Und übertrifft an Herrlichkeit
Die schönsten Kreaturen weit?
Und doch, wie wenig sind, die merken
Den Gotteshauch in diesen Werken,
Geh’n träge vorüber an seiner Spur
Und denken an das Zeitlich‘ nur!
Mit all ihrem Schaben, Schinden und Scharren
Werden sie allesamt zu Narren!“
So predigte unter dem Kirschenast
Der Doktor Luther; ich denke fast:
Wen solche Predigt nicht bekehrt,
Ist auch nicht einer Kirsche wert!
(K. R. Hagenbach)
Quelle:
Basilea poetica.
Altes und Neues aus unsrer Vaterstadt. Zweite neu bearbeitete, vermehrte Auflage.
Basel 1897.
Druck und Verlag von Adolf Geering.
[Seite 161ff. / Digitalisat]
Siehe auch:
Karl Rudolf Hagenbach in der deutschsprachigen Wikipedia