Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich. (Matthäus 6, 6)
Zur Zeit Christi gab es viele Heuchler, welche „gern standen und beteten in den Schulen, und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen würden“; Christus aber sagte von ihnen „Wahrlich Ich sage euch: sie haben ihren Lohn dahin“, V. 5, und gab hernach einem Jeden den Rat, in sein Kämmerlein zu gehen, und da im Verborgenen zu beten. Nicht nur der eitle Ehrgeiz, den man bei dem öffentlichen Beten nähren konnte, sondern auch die Gefahr vor der Zerstreuung des Gemüts, und die Furcht, daß Andere durch das vertrauliche Ausschütten des Herzens vor Gott geärgert werden könnten, macht diesen Rat notwendig. Christus selbst war kurz vorher, ehe Er diesen Rat gab, auf einen Berg gegangen, zu beten, und über Nacht im Gebet zu Gott geblieben, Luk. 6, 12. Ein andermal ließ Er Seine Jünger und das Volk von Sich, und stieg auf einen Berg allein, daß Er betete, Matth. 14, 23. Auch am Oelberg riß Er Sich bei einem Steinwurf weit von Seinen Jüngern weg, da Er beten wollte. Doch muß man aus diesem Allem kein fleischliches Gebot machen, sondern auf den Zweck sehen, welcher oft auch durch ein öffentliches Gebet erreicht werden kann, wenn nur der Ehrgeiz und die Zerstreuung des Gemüts davon abgesondert wird. Christus hat selber das unvergleichliche Gebet, das Joh. 17. steht, vor Seinen Jüngern gesprochen, und Matth. 18, 19 gesagt: wo zwei unter euch Eins werden auf Erden, warum es ist, das sie (gemeinschaftlich) bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von Meinem Vater in dem Himmel. Auch ist schon zu der Apostel Zeit der öffentliche Gottesdienst nicht ohne ein öffentliches Gebet gehalten worden, wie aus 1. Kor. 11, 4; 14, 13─15; 1. Tim. 2, 8. zu schließen ist. Die Hauptsache bei dem Gebet ist, daß man durch den Geist der Kindschaft, welcher auch ein Geist der Gnade und des Gebets ist, angetrieben werde, zu Gott als einem Vater zu beten. Wenn man nun vertrauliche Bitten vorzutragen hat, bei welchen Andere nicht mit anstehen können, oder man schwach und blöde ist, und bei einem öffentlich verrichteten Herzens-Gebet in der Gefahr stünde, durch Ehrgeiz oder Zerstreuung die Gebetskraft zu verlieren, so soll man in sein Kämmerlein gehen, die Türe hinter sich zuschließen, und zu seinem Vater im Verborgenen beten, oder auch einen andern einsamen Ort zum Beten erwählen. Der Vater aber, der in’s Verborgene siehet, wird einem solchen Beter sein Gebet öffentlich vergelten. Er wird sein Gebet erhören und gewähren. Er wird ihm geben, was er bittet, ihn finden lassen, was er sucht, und ihm auftun, wenn er anklopft. Er wird ihm als ein Vater gute Gaben, welche alle in der Gabe des Heiligen Geistes zusammen gefaßt sind, geben, und diese Gabe wird alsdann durch gute Werke ihren Schein vor den Leuten von sich geben, damit der Vater im Himmel darüber gepriesen werden könne. Am jüngsten Tage aber wird Er einen solchen Beter, der sich durch die Welt durchgebetet und in den Himmel hinein gebetet hat, öffentlich rühmen, und durch die Stellung zur Rechten Jesu, und durch die Mitteilung einer überschwenglichen Herrlichkeit ehren. Auch heute will ich zu dem Vater im Himmel beten. Er wird meine Bitten um Seines Sohnes willen nicht verschmähen.
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Unser Herr und Heiland hatte von den Gebeten der Heuchler gesprochen, die sich gern von den Leuten sehen lassen mit ihrem Beten, und von den Gebeten der Heiden, die meinen, sie müßten viele Worte machen, um erhört zu werden. Sie verstehen nicht, daß das Gebet nur Wert hat, wenn es an den persönlichen, alles sehenden und allhörenden Gott gerichtet ist. In der oben angeführten Stelle gibt uns der Herr eine wunderbare Lektion in Bezug auf den unschätzbaren Segen, den ein Gotteskind im Kämmerlein haben kann. Soll uns diese Lektion wirklich von Nutzen sein, so müssen wir erkennen, welches Licht das Kämmerlein erstens auf die wunderbare Liebe Gottes wirft. Wenn du ins Kämmerlein gehst, so denke an Gott, an seine Größe, seine Heiligkeit, seine unaussprechliche Herrlichkeit und an das herrliche Vorrecht, zu dem er seine Kinder einlädt, daß sie, so wie sie sind, zu jeder Stunde des Tages zu ihm und mit ihm reden dürfen, solange sie wollen. Geht eins derselben ins Kämmerlein, so ist Gott bereit, ihm dort zu begegnen, Gemeinschaft mit ihm zu haben, ihm die Kraft und Freudigkeit zu geben, deren es bedarf, und zugleich die lebendige Zuversicht, daß er mit ihm sein und ihm in allen Stücken beistehen will. Überdies verheißt er ihm, daß er ihm sowohl für sein äußeres Leben wie für seine Arbeit geben will, was es sich im Verborgenen des Kämmerleins von ihm erfleht hat. Sollten wir da nicht vor Freude jubeln! Was für eine Ehre und was für ein Heil!
Man mag in der größten Not sein oder den tiefsten Fall getan haben – man mag leiblichen oder geistlichen Segen für das Alltagsleben wünschen, man mag für sich selbst, seine Angehörigen oder seine Gemeinde oder Gemeinschaft, ja, für die Welt im großen und ganzen beten – es ist alles eingeschlossen in die dem Gebet im Kämmerlein gegebene Verheißung:
„Bete zu deinem Vater im Verborgenen, und er wird es dir vergelten öffentlich“.
Man könnte demnach denken, es gäbe keinen anziehenderen Ort für ein Gotteskind als das Kämmerlein, wo ihm die Gegenwart des Vaters verheißen ist, und wo es ungestört mit dem Vater verkehren kann. Weder die Wonne eines Kindes, wenn es so recht die Liebe seines irdischen Vaters genießen darf, noch die eines Freundes, wenn er mit einem geliebten Busenfreunde zusammentrifft – weder das Glück eines Untertanen, der freien Zutritt zu seinem König hat und so lange bei ihm bleiben darf, wie er will – kommen dieser göttlichen Verheißung gleich. O der wunderbaren Liebe Gottes, die uns ein durch solche Verheißung geheiligtes Kämmerlein gibt! Danken wir doch dem Herrn Tag für Tag für diese Liebesgabe! In dieser sündigen Welt hätte er sich nichts ausdenken können, was unseren Bedürfnissen besser entsprochen hätte, was uns eine solche Quelle unaussprechlichen Segens sein könnte.
Zweitens geht vom Kämmerlein Licht aus auf die tiefe Sündhaftigkeit des Menschen. Man könnte denken, jedes Gotteskind müßte mit Freuden einer solchen Aufforderung nachkommen. Anstatt dessen kommt aus allen Ländern die Klage, daß die sogenannten Gläubigen im allgemeinen das Gebet im Kämmerlein vernachlässigen. Viele benutzen das heilige Vorrecht überhaupt nicht. Sie gehen wohl in die Kirche oder Versammlung, bekennen Christus als ihren Heiland, aber von einem persönlichen Verkehr mit ihm wissen sie wenig oder nichts. Viele benützen es ein wenig, aber in aller Eile, und es ist entweder Gewohnheitssache bei ihnen, oder sie suchen ihr Gewissen damit zu beschwichtigen – aber Freude und Segen haben sie nicht davon. Und – was das Schlimmste ist – viele, die etwas von dem vom Kämmerlein ausgehenden Segen gespürt haben, bekennen, daß sie wenig von einem treuen, regelmäßigen, seligen Verkehr mit dem Vater wissen als von etwas, was ihnen so nötig ist wie das tägliche Brot.
Was ist eigentlich schuld, daß so wenig Kraft vom Kämmerlein ausgeht? Ist nicht die tiefe Sündhaftigkeit des Menschen und die Abneigung seiner gefallenen Natur gegen Gott schuld daran, daß er lieber mit der Welt Gemeinschaft hat, als Auge in Auge mit seinem himmlischen Vater zu verkehren? Kommt es nicht etwa daher, daß die Christen dem Worte Gottes nicht glauben, wenn es sagt, daß das Fleisch, das in ihnen ist, Feindschaft gegen Gott ist, und daß sie zu sehr im Fleische wandeln, als daß der Geist sie zum Gebet stärken könnte? Ist es nicht, weil die Kinder Gottes sich vom Teufel die Waffe des Gebets entwinden lassen, so daß sie ihm machtlos gegenüberstanden? O der tiefen Sündhaftigkeit des Menschen! Es gibt keinen größeren Beweis für dieselbe als diese Geringschätzung der unaussprechlichen Liebe Gottes, die uns das Kämmerlein geschenkt hat.
Am allertraurigsten aber ist es, daß sogar Diener Jesu Christi sich der Gebetsversäumnis schuldig bekennen müssen. Die Heilige Schrift sagt ihnen in allen Tonarten, daß das Gebet ihre einzige Kraft ist, und daß sie durch dasselbe mit Kraft aus der Höhe für ihre Arbeit ausgerüstet werden können. Dennoch scheint es, als habe die Macht der Welt und des Fleisches sie bezaubert. während sie ihrer Arbeit viel Zeit opfern und großen Eifer für dieselbe an den Tag legen, vernachlässigen sie die Hauptsache und haben weder Lust noch Kraft zu dem für Erlangung der Gabe des Heiligen Geistes unumgänglich nötigen Gebet. Ohne den Heiligen Geist aber kann ihre Arbeit unmöglich fruchtbringend sein. Gott schenke uns in Gnaden, daß wir im Licht des Kämmerleins unsere tiefe Sündhaftigkeit erkennen!
Drittens wirft das Kämmerlein Licht auf die herrliche Gnade Jesu Christi. Ist demnach keine Hoffnung, daß es anders werden wird? Muß es immer so bleiben? Oder gibt es ein Mittel zur Abhilfe? Ja, Gott sei Dank!
Der Mann, durch den Gott die Aufforderung ins Kämmerlein an uns ergehen ließ, ist kein anderer als unser Herr und Heiland, der uns von unseren Sünden erretten kann und will, und uns auch von dieser Sünde erretten wird. Er hat nicht unternommen, uns von allen anderen Sünden zu erretten, und es uns überlassen, mit der Sünde der Gebetslosigkeit in eigener Kraft selig zu werden. Nein – auch mit dieserr Sünde dürfen wir zu ihm kommen und zu ihm schreien: „Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen“ – „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
Willst du wissen, wie du diese Errettung erfahren kannst? Auf keinem anderen Weg als dem, auf dem jeder Sünder zu Christus kommen muß. Fange damit an, daß du ihm kindlich und einfältig bekennst, wie sehr du das Kämmerlein vernachlässigt und entheiligt hast! Sinke in tiefer Scham und Reue vor ihm nieder! Sage ihm, dein Herz habe dich betrogen, indem es dich glauben machte, du könntest beten, wie sich’s gebührt. Sage ihm, daß dich die Schwachheit des Fleisches, die Macht der Welt und das Selbstvertrauen irregeführt haben, und daß du nicht die Kraft hast, es in Zukunft besser zu machen. Tu das von ganzem Herzen. Du kannst die Sache nicht durch gute Vorsätze oder eigene Anstrengungen zurechtbringen.
Komm in deiner ganzen Sündhaftigkeit und Ohnmacht ins Kämmeerlein und danke Gott in erster Linie, wie du ihm noch nie gedankt hast, daß die Gnade des Herrn Jesu es gewiß auch dir möglich machen wird, mit dem Vater so zu verkehren, wie es sich für ein Kind geziemt. Übergib dem Herrn Jesu aufs neue dein ganzes Sündenelend sowie dein ganzes Leben und deinen Willen, damit er dich reinige als sein teuer erkauftes Eigentum.
So kalt und tot dein Herz auch sein mag, übe dich beharrlich in dem Glauben, daß Christus ein allmächtiger treuer Erlöser ist – die Errettung wird dann sicherlich nicht ausbleiben. Erwarte sie mit Bestimmtheit, so wirst du sie allmählich verstehen lernen, daß das Kämmerlein die Offenbarungsstätte der wunderbaren Gnade Jesu Christi ist, die uns instand setzt, zu tun, was wir nicht aus uns selbst tun könnten – nämlich die Gemeinschaft mit Gott zu pflegen und Lust und Kraft zu einem Wandel mit ihm zu bekommen.
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Der Betsaal, den die jüdischen Gemeinden an allen Orten herstellten, war eine wunderschöne Einrichtung. Weil sie sich die Betsäle bauten, erhielten sich die Jüdischen in allen Ländern, und jedes ihrer Glieder fand im Betsaal immer wieder die Nahrung, die ihm für sein inwendiges Leben unentbehrlich war. Auch wir können uns keine Mission denken ohne Kirchenbau und keine Christenheit ohne Räume, die für ihren Gottesdienst ausgesondert sind. Dennoch führt Jesus die Seinen, wenn sie beten, aus dem Betsaal hinaus. Wohin? Welchen Ort zeigt er ihnen, der heiliger wäre als der Betsaal? Gibt er seinen Jüngern auf, statt der jüdischen christliche Betsäle herzustellen? Die Vorratskammer, voll von irdischen Dingen, von Öl- und Weinkrügen und Getreidehaufen, beschreibt er den Seinen als den richtigen Ort für ihr Gebet. Das ist sie deshalb, weil man sie verschließen kann. Dort beten sie im Verborgenen zu dem, der im Verborgenen gegenwärtig ist und die im Verborgenen Betenden erhört. Wie jedes Wort Jesu, so beschenkt uns auch dieses mit seiner königlichen Freiheit. Der, der in seinem Vorratsraum beten kann, ist frei gemacht, frei vom verwirrenden Eindruck, den die natürlichen Dinge auf uns machen, frei auch von jeder religiösen Stütze, die seine Erinnerung an Gott beleben soll. Er braucht keinen geweihten Raum, keine ihn feierlich stimmende Umgebung, keine Hallen und Orgeln, nicht einmal die Gemeinde. Er muss nicht erst durch irgendeine Vermittlung zu Gott emporgetragen werden; er hat Gott bei sich auch an dem dem irdischen Leben dienenden Ort. Diese Freiheit ist aber eine erhabene und heilige Sache; denn sie ist der Besitz der Glaubenden, die am verborgenen Gott nicht zweifeln, obschon kein sicheres Zeichen sie an ihn erinnert. Hier in der Stille sind sie gegen das geschützt, was im jüdischen Betsaal das Gebet verdirbt. Dort vergisst der Beter nie, dass er bei den anderen ist; denn jedes Auge schaut auf den Beter, und jeder beurteilt die anderen und misst ihnen die Ehre und die Schande zu nach dem Maß ihrer Frömmigkeit. Mit wem spricht der Beter? Fragt uns Jesus, und bei wem sucht er den Erfolg seines Gebets? Bei den Menschen oder bei Gott? Du willst als Beter zu Gott reden; dann geh von den Menschen weg, geh in die Verborgenheit.
Wenn ich nicht Dich, gegenwärtiger und heiliger Gott, allein vor Augen habe, gibt es für mich keine heilsame Gemeinschaft mit den Menschen, kein Wort, das Kraft hätte, keine Liebe, die wirklich hilft, keine Gemeinschaft des Gebets, bei der ich Dich anbetete. Dich suche ich und bete zu Dir, damit ich Deinen Willen erkenne und Deine Gaben empfange und mein Leben auf Dich gegründet sei, allein auf Dich.
Amen.
Quelle:
Übersicht: Matthäus-Evangelium ─ Matthäus 6