Verse 21-23: Die gefangen gehaltene Wahrheit.
V. 21: „Dieweil sie, obgleich sie Gott kannten, ihn nicht gepriesen haben als Gott, noch ihm gedankt, sondern sind eitel geworden in ihrem Vernünfteln, und ihr unverständiges Herz hat sich verfinstert.“
Das d i e w e i l geht auf den Ausdruck unentschuldbar. Diese Konjunktion drückt wieder das Gefühl des Unwillens aus welches sich in dem ἐν ἀδικίᾳ, V. 18, ausgesprochen hatte. Ja, unentschuldbar in Anbetracht, daß… ─ Wie kann der Apostel von den Heiden sagen, sie haben Gott gekannt? Ist eine bloße Möglichkeit gemeint? Der Ausdruck läßt das nicht zu, und V. 19 hat ausgesprochen, daß das Licht ihnen wirklich aufgegangen ist (φανερόν ἐστιν – phaneron estin).
Das Heidentum zeugt gegen sich selbst; denn alle die verschiedenen Kulte beweisen durch die Thatsache ihres Vorhandenseins, daß der menschliche Geist wirklich die Idee Gottes begriffen hatte. Nur ist’s dann so gekommen: diese natürliche Erkenntnis Gottes ist nicht von der passiven Form in die aktive übergegangen. Der Mensch hat sich begnügt, die Offenbarung, welche ihm Gott von sich gab, zu empfangen. Er hat es sich nicht sofort angelegen sein lassen, sie zu pflegen und selbstthätig zu entwickeln. Dadurch wäre er von Licht zu Licht erhoben worden; es wäre der königliche Weg gewesen, von dem Paulus 1. Kor. 1, 21 redet, der Weg der W e i s h e i t, auf welchem der Mensch zu einer höheren Erkenntnis vorbereitet worden wäre. Statt dessen hat er dieses Licht, welches ihm geschenkt war, erstickt; er hat sein Gemüt und seinen Verstand der Wirkung desselben entzogen. Nach diesen zwei Richtungen, der intellektuellen und moralischen, verfolgt Paulus in den folgenden Versen die Entwickelung dieser anfänglichen Untreue. Allerdings fehlte es dem Heidentum nicht an gottesdienstlichen Gebräuchen und an den der Gottheit dargebrachten Dankesbezeugungen, aber ebendeswegen fügt er zu den Worten „sie haben ihn nicht gepriesen“ hinzu: „als Gott“. Die erhabene Aufgabe der menschlichen Vernunft wäre gewesen, aus der Anschauung des Werks das lebendige Bild des göttlichen Urhebers innerlich ausgehen zu lassen, im Akt der Anbetung dieses höchste Wesen mit allen den Vollkommenheiten zu schmücken, welche die Schöpfung ausstrahlt, und den inwendig als Gott zu setzen, der sich äußerlich in so herrlicher Weise als solchen kundthat. Dies hätte dann geheißen „ihn preisen“. ─ Wenn es an dieser Thätigkeit der Vernunft fehlte, so hätte wenigstens das Gemüt hier seine Aufgabe erfüllen sollen, die des Dankens. Dankt doch auch ein Kind seinem Wohlthäter! Das Wort ἤ, oder, ist hier, wie häufig, in der Bedeutung: oder wenigstens zu nehmen. Bengel sagt mit Recht: ihn preisen wegen seiner Tugenden, ihm danken wegen seiner Wohlthaten. ─ Aber das Gemüt hat sich seiner Aufgabe ebenso wenig entledigt, wie die Vernunft der ihrigen. Nun konnte der Mensch nicht stille stehen. Schritt er nicht vorwärts auf dem Weg der aktiven Religion, so konnte er sich nur auf den Abweg verirren: den der Gottlosigkeit (V. 18). Nachdem die Vernunft versäumt hatte, als den höchsten Gegenstand ihrer Thätigkeit Gott zu setzen, blieb ihr nichts übrig, als im Leeren sich zu ergehen; sie ist ins Eitle verfallen (ἐματαιώθησαν), sie hat die Welt mit Dichtungen, mit Hirngespinsten bevölkert. So nennt Paulus die eitlen mythologischen Gebilde. Der Ausdruck ἐματαιώθησαν spielt offenbar an auf μάταια, Eitles, das Wort, welches die Juden von den Götzen gebrauchten (vergl. Apg. 14, 15; 3. Mos. 17, 7; Jer. 2, 5; 2. Kön 17, 15). Der Ausdruck διαλογισμοί, Gedanken, wird von den Schriftstellern des Neuen Testaments immer in ungünstigem Sinn gebraucht; er bezeichnet die unordentliche Thätigkeit des νοῦς im Dienst eines verderbten Herzens. Die folgenden Worte beziehen sich auf die Verderbtheit des Herzens; diese hat gleichen Schritt gehalten mit der Verirrung der Vernunft, deren Ursache und zugleich Wirkung sie ist. Das Herz, καρδία, ist im Neuen wie im Alten Testament l e b, der Mittelpunkt des persönlichen Lebens, was wir das Gemüt nennen, die innere Kraft, welche zu gleicher Zeit die Thätigkeit des Verstandes und die Richtung des Willens bestimmt. Indem das Herz der Menschen dadurch, daß sie Gott nicht dankten und als Gott priesen, ihn, seinen wahren Gegenstand verloren hat, ist es mit der selbstsüchtigen Liebe zur Kreatur und zum Ich und mit den daraus hervorgehenden sündigen Lüsten erfüllt worden. Das ist die sittliche Verfinsterung, welche zugleich mit der Verirrung der Vernunft wächst. Das Beiwort ἀσύνετος, unverständig, wird oft erklärt als antizipierter Ausdruck dessen, was das Herz auf diesem Weg werden mußte: „so daß es unverständig wurde“. Aber liegt nicht schon Unvernunft in der V. 21 beschriebenen Undankbarkeit? Der Unverstand war also von Anfang an vorhanden. Im Aor. I Passiv ἐσκοτίσθη, ist verfinstert worden, wie in dem vorhergehenden ἐματαιώθησαν spricht sich schon das Gefühl eines göttlichen Verhängnisses aus, aber noch unter der Form des Vollzugs eines einfachen Naturgesetzes.
Diese erste Stufe des Verfalls vollzog sich im Innern; auf sie ist eine zweite, mehr äußerliche gefolgt.
Quelle:
Kommentar zu dem Brief an die Römer, von F.[rédéric Louis] Godet, Dr. und Professor der Theologie in Neuchâtel. Deutsch bearbeitet von E.R. Wunderlich, weil. Pfarrer in Bondorf, und K. Wunderlich, Stadtpfarrer in Markgröningen. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe. Erster Teil. Kapitel 1-5. Hannover, Verlag von Carl Meyer. (Gustav Prior.) 1892. [S. 120f.; Digitalisat]
Bibeltext: Luther 1912 und Greek Text Analysis (bibeltext.com)
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