1. Johannes 2, 2

Und derselbe [Jesum Christum, V. 1] ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. (1. Joh. 2, 2)

Wo geschieht das größere Wunder, wenn dem Christen, der seinem Christenstand untreu wird, oder wenn der Welt, die Christus nicht kennt oder ablehnt, die Sünden vergeben sind? Die Frage ist töricht; denn beim Wunder gibt es keinen Unterschied zwischen Größe und Kleinheit mehr. Die Versöhnung, die Jesus für uns hergestellt hat, ist immer ein unbegreifliches Wunder, das darum möglich ist, weil Christus bei Gott steht in der Herrlichkeit seiner Gottessohnschaft und in der wirksamen Macht seines in Seinem Tod vollbrachten Gehorsams und in der Majestät seiner Erhöhung zu Gott, die ihn für uns zu unserem Fürsprecher macht. Der Apostel läßt es weder der Menschheit noch der Christenheit zu, daß sie mit eigener Hand nach Gottes Vergebung greife, als könnten wir sie bei Gott beanspruchen um dessen willen, was wir sind. Jeder Anspruch endet an unserer Schuld, und der Mund muß sich vor Gott schließen in jenem Schweigen, das Gottes Gericht ehrt.

Weil aber Gott der Welt seinen Sohn gab, gab er ihr mit Ihm auch die Vergebung, und weil er die Christenheit zu Jesus rief, gibt es auch für den sündigenden Christen nicht nur Anklage, sondern auch Freispruch, nicht nur Jammer und Reue mit bitterem Tod, sondern auch Umkehr und Aufstehen und Wandel im Licht. Warum wird es mir leichter, dies zu glauben als das, daß die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, versöhnt sind? Ich denke doch immer, daß die Befreiung von der Schuld durch unsere Reue und unsere Besserung und unseren Glauben erworben werden müsse. Daß ich Gott seine Gnade lasse, die Sein eigener Wille ist und weder von der Welt noch von der Christenheit erworben wird, das fällt mir schwer. Aber die Strafe für meinen Unglauben, mit dem ich die anderen von Gottes Gnade ausschließe, ist immer die, daß ich selbst nicht an Gottes Vergebung glauben kann und sie für mich selbst verliere. Wer könnte sie erwerben, wenn es seine Sache wäre, sie zu bewirken? Nur Gottes selbsteigene Tat reicht sie mir dar. Das ist bei mir genau so wie bei jedem anderen und deshalb ist mir das Wort des Apostels unentbehrlich, daß Christus sowohl für die Sünden der Christen als auch für die der ganzen Welt der Versöhner sei.

Lehre mich, Herr, mit Deinem barmherzigen Blick die Welt zu betrachten, damit ich nicht nur ihre Sünden sehe, sondern auch Dein Versöhnen vor Augen habe, das uns alle vor dem schützt, was wir uns durch unser verwerfliches Handeln bereiten.

Amen.

(Adolf Schlatter)