II. Wie soll ich zum heiligen Abendmahl gehen?

Unser Herr und Heiland ist unser einziges Vorbild; ihm sollen wir nachfolgen, in allen Stücken ihm ähnlich werden. Betrachten wir seinen ganzen Wandel während der Tage seines Fleisches, so sehen wir ihn überall als denselben. Er blieb sich immer gleich; er war auf der Hochzeit in Kanaa und beim Mahl im Hause Simons so fromm als in Bethanien und im Tempel. Er war bei der Speisung der fünftausend Mann in derselben Gemeinschaft mit seinem Vater, wie er es war bei der Einsetzung des heiligen Abendmahls.

Seine Gemeinschaft mit dem Vater war die Macht, die sein ganzes Leben Tag für Tag durchdrang und heiligte. So muß es bei uns werden. Leider gibt es viele Christen, die dreierlei Gesichter haben: ein Werktagsgesicht, ein Sonntagsgesicht und ein Abendmahlsgesicht. Am Werktag sieht man bei ihnen nicht viel von Gemeinschaft mit Gott, sie leben ähnlich, wie die Welt und mit der Welt. Am Sonntag Vormittag haben sie dann einen Anstrich von Feierlichkeit, der aber nicht anhält bis am Abend. Am Abendmahlssonntag aber haben sie ein eigentümliches Gepräge; da schrauben sie sich in einen Ernst hinein, den man sonst bei ihnen nie sieht, der aber so rasch wieder vergeht, als er kam.

Da könnte man freilich fragen: was hast du zu tadeln an diesen dreierlei Gesichtern, sind sie nicht selbstverständlich? Bis zu einem gewissen Grade gebe ich zu, daß sie selbstverständlich sind. Ich wundere mich nicht, wenn ein Mann am Sonntagmorgen im Gottesdienst andächtiger aussieht als die Woche über an seinem Dampfkessel; und ebenso wenig wundere ich mich, wenn er beim Genuß des heiligen Abendmahls besonders feierlich gestimmt ist. Es soll so sein, und ich finde es über die Maßen traurig, wenn gewisse Leute so wenig Sinn und Verständnis haben für die besondere Feierlichkeit
und Heiligkeit einer sakramentalen Handlung, wie es mir zu meinem Schmerz mehr als einmal begegnet ist. Also nicht das Selbstverständliche und der Sache Entsprechende finde ich bedenklich, sondern das tadle ich, wenn der Mensch am Sonntagvormittag ein ganz anderer ist als am Werktag, und dann am Abendmahlssonntag vollends ein ganz anderer. Ich finde es bedenklich, wenn der Sonntag und der Genuß des heiligen Abendmahls bei uns nicht die Wirkung haben, daß ein christlicher Charakter sich bildet, der sich gleich bleibt, so daß unser tägliches Leben geheiligt wird. Wir machen dem lieben
Gott gar keine Freude, wenn wir zu gewissen Zeiten in besonderem Anstrich vor ihm erscheinen, und zu anderer Zeit so leben, als lebten wir nicht in seiner Gegenwart.

Wie viele treue Seelsorger seufzen, wenn die Festtage kommen, an welchen ein Massenabendmahl stattfindet, wozu manche kommen, die das ganze Jahr nur ein Mal zum Tische des Herrn nahen. Da sieht es dann aus, als wollte man jährlich einmal mit seinen Sünden aufräumen, um dann nach alter Gewohnheit weiter zu leben. Man steigert sich in einen vorübergehenden Ernst hinein, der unnatürlich ist, weil das ganze Leben im
Widerspruch zu demselben steht. Solche Leute sollen ja nicht denken, daß sie durch den Abendmahlsgenuß Vergebung der Sünden bekommen; der Herr vergibt nur denen die Sünden, welche die Sünde lassen und ein neues Leben führen wollen. Solch eine Anschauung vom Zweck des heiligen Abendmahls und von der Vergebung der Sünden ist überhaupt ein Zerrbild und ein Gräuel vor Gott. Ein wahrer Christ, der seinem Gott gefallen will, kann nicht meinen, daß man jährlich etwa einmal aufräume mit den Sünden,
und dann wieder weiter mache wie vorher; er kann mit der Gewißheit der Vergebung der Sünden kein Jahr, keinen Monat, keine Woche warten.

Unser Herr lehrt uns  t ä g l i c h  bitten: Vergib uns unsere Schulden, und das sollen wir im Glauben bitten. Ein gläubiger Christ soll jeden Abend im Frieden Gottes einschlafen, damit er getrost sein kann, wenn er nicht mehr aufwacht für dieses Leben. So will Gott es haben. Wer so steht, ist ein rechter Abendmahlsgast. Die rechte Vorbereitung zum heiligen Abendmahl geschieht  t ä g l i c h.  Wir sollen so vor Gott wandeln, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben. Sündigen wir, so sollen wir ungesäumt um Vergebung bitten, und nicht warten bis am andern Morgen. Wir sollen so in der Gemeinschaft unseres gekreuzigten und auferstandenen Heilandes stehen, daß die Gemeinschaft mit seinem Tode uns bewahrt, und wir wandeln als solche, die in seinen Tod getauft sind, als mit ihm Gekreuzigte.

Stehen wir so, dann lernen wir das Abendmahl in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen. Diese besteht zunächst nicht in der Vergebung der Sünden. Der Herr hat sein Mahl für seine Gemeinde eingesetzt; sie ist seine Gemeinde, weil  sie Vergebung  der Sünden  h a t,  sie steht ja in der Gnade, Röm. 5, 2, und ist der Leib Christi. Diese Gemeinde, die da ist der Leib Christi, Ephes. 4, 12, genießt im heiligen Abendmahl den Leib und das Blut Jesu Christi als geistliche Speise und geistlichen Trank, und wird so wirklich und wahrhaftig des Lebens Jesu Christi teilhaftig. Ihr ist also das heilige
Abendmahl vor allem ein Mahl der Lebensgemeinschaft mit Christo, und weil sie ein Leib ist, auch der Gemeinschaft unter einander 1. Corinth. 12, 13. Ich nahe mich zum Tische des Herrn im Glauben; ich bin ein Glied an Jesu Leib, eine Rebe am Weinstock; darum ist für mich die einzig richtige innere Verfassung: ich komme demütig, als ein mit Jesu Blut Erkaufter, mit innigem Verlangen, im kindlichen Glauben an die Einsetzungsworte: das ist mein Leib, das ist mein Blut, und mit herzlicher Dankbarkeit.

Genieße ich in dieser inneren Verfassung das heilige Abendmahl, so ist das eine ganz andere Stimmung, als wir sie gar zu oft sehen. Wie viele kommen zum heiligen Abendmahl in ganz gesetzlicher Stimmung, als wäre es eine richterliche Handlung! Sie schrauben sich mit Mühe in einen unnatürlichen, gesetzlichen Ernst hinein, als wollten sie sich auf diese Weise des Genusses würdig machen, und so der Vergebung der Sünden teilhaftig werden.

Dieses gesetzliche, selbstgemachte, geschraubte Wesen ist unnatürlich und dem
Herrn mißfällig. Das heilige Abendmahl ist keine gesetzliche Anstalt, sondern die größte Gnadenwohltat. Wir entleeren es, und drücken das christliche Leben der Gemeinde herunter, wenn wir ihm einen gesetzlichen Anstrich geben und meinen, durch das heilige Abendmahl empfange man zunächst Vergebung der Sünden.

Mit den gemachten Bemerkungen möchte ich ja nicht sagen, man soll nicht in ernster Stimmung zum Tische des Herrn nahen. Wir sollen uns ja selbst prüfen nach Pauli Wort in 1. Cor. 11, 28, und mehr als einmal muß der Herr selber mit dem einen und andern sehr ernst reden vor dem heiligen Abendmahl; aber es ist ein großer Unterschied zwischen einem Ernst, den  der  H e r r  wirkt, und gesetzlichem Wesen, das der  M e n s c h  macht .
Ich möchte auch durchaus nicht behaupten, daß nicht schon Unzählige im heiligen Abendmahl der Vergebung der Sünden teilhaftig, also durch dasselbe ihres Heiles gewiß wurden, im Gegenteil. Ist doch das heilige Abendmahl auch eine Verkündigung des Todes Jesu, durch den allein wir Vergebung der Sünden haben, so daß die Abendmahlsgemeinde es öffentlich bezeugt: Jesus der Gekreuzigte ist unser einziger Trost im Leben und im Sterben; in seinem Blut allein haben wir Gnade und Vergebung. Aber gerade die Verkündigung des Todes Jesu im heiligen Abendmahl ist ein Bekenntnis der freien Gnade
Gottes, das mit herzlichem Dank ausgesprochen werden muß, es ist nichts Gesetzliches.

Lassen wir es uns ein Anliegen sein, daß wir mit dem Apostel sprechen lernen: nun wir denn sind  g e r e c h t  g e w o r d e n  durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum. Bewahren wir diesen Frieden durch Wachen und Beten, damit wir täglich in der Gnade stehen, und uns derselben freuen und getrösten. Genießen wir dann das heilige Abendmahl, so tun wir es als begnadigte Leute, die mit herzlicher Demut, innigem Dank, und aufgeschlossenem Herzen den Leib und das Blut
unseres Herrn Jesu Christi genießen, der sich uns als der Gekreuzigte, Auferstandene und Verherrlichte mitteilt, und uns so zubereitet auf den Tag seiner Zukunft und den Tag der Auferstehung. Christen, die in knechtischer Furcht, in gesetzlichem Geist das heilige Abendmahl genießen, zur vorübergehenden Beruhigung ihres Gewissens, stehen im Vorhof und nicht im Heiligtum. Helfen wir ihnen, aus dem Vorhof in das Heiligtum zu kommen, aus dem  G e s e t z  in die freie  G n a d e.

Elias Schrenk
(1831-1913)

Quelle: Suchet in der Schrift. Tägliche Betrachtungen für das ganze Jahr mit Anhang, S. 369-372. Von E. Schrenk. 2. Auflage, 32. bis 36. Tausend. Kassel. Druck und Verlag von Ernst Röttger, 1892.