Herr, warum? (Samuel Keller)

Wiederholt kehrt in meinem Fremdenbuche ein Name wieder, der mir eine merkwürdige Begebenheit vors Geistesauge führt. Wir wollen hier den Namen nicht brauchen , weil die Familie in Südrußland weit und breit bekannt ist. Namen thun ja auch wenig zur Sache.

In einem kleinen Städtchen Südrußlands befand sich unter den etwa fünf bis sechstausend Russen eine evangelische Diasporagemeinde von etwa sechzig Seelen. Seit Jahren war kein Hauch des Geistes darin zu spüren gewesen, der Leben aus dem Tode schafft, denn der Kirchspielspfarrer wohnte weit entfernt, kanı selten zum Gottesdienstabhalten an den Ort und, wenn er kam, regte er eigentlich bei aller Treue nicht sonderlich an. Durch eine eifrige christliche Dame war ihm der Gedanke nahe gelegt worden , sich zur Hülfe einen Evangelisten von der Pilgermission zu St. Crischona kommen zu lassen. Das geschah, und anfangs wußten die guten Leutchen nicht recht, was dieser junge feurige Schweizer eigentlich mit seinen scharfen Predigten wolle. Sie waren ja alle gut kirchlich und lebten daneben so behaglich und gemütlich nach Weltweise, als möglich.

Mit der Zeit aber schlug das jetzt sonntäglich gepredigte Wort durch und es gab, wie stets in solchen Fällen, viele Widerwärtige, aber auch offene Thüren. Man sprach in den Häusern und Gesellschaften Tag aus, Tag ein von diesem Prediger und überall bildeten sich Parteien. Landleute kamen meilenweit zur Kirche, um diese Anregung zu genießen, und die Stadtleute fanden plötzlich den Gottesdienst so interessant, daß kein Platz im Kirchlein unbesezt war. Die Besorgnis, als würde die Aufbringung des Gehalts für den Evangelisten Schwierigkeiten machen, zeigte sich als unnütz: Häuser und Hände thaten sich für ihn auf, weil der Herr durch ihn Herzen aufgethan hatte.

Unter den ersten Häusern der Stadt war auch das der Madame X. Sie wurde gründlich erweckt und suchte Frieden. Nach langen seelsorgerlichen Gesprächen mit dem Evangelisten und gemeinsamem Gebet fand sie die Gewißheit ihres neuen Heilstandes . Statt aber nun sebstständig in Christo zu werden, hing sie in begreiflicher Verehrung
an dem sichtbaren Werkzeug der unsichtbaren Gnade . Auch anderen Seelen der neuerweckten Gemeinde erging es ähnlich und diese Begeisterung für den Boten des Herrn steigerte sich noch um ein Erhebliches, als er plötzlich einen Ruf in seine Schweizer Heimat erhielt. Man bot alles auf, ihn zu halten; man schrieb und bat, man schenkte und bot allerlei, nur um ihn nicht ziehen lassen zu müssen. Man stellte ihm vor, wie nötig man ihn habe und wie undenkbar es sei, daß man ohne ihn auskommen könne u. s . w.

Kurz, er blieb. Um diese Zeit war ich im Nachbarkirchspiel angestellt worden und es kam auf meine Anregung hin wirklich zu Stande, daß im Pfarrdorf, zu dem jenes Städtchen gehörte, ein Missionsfest abgehalten werden sollte. Am Sonntag vor diesem Missionsfest predigte der junge Evangelist mit großer Freudigkeit über die Missionspflicht der
Christenheit und riß alle Hörer mit sich fort. Nach dem Gottesdienst ging er mit einem Freunde an’s Meer, um noch vor dem Mittagessen, das er bei Madame X… einnehmen sollte, ein Bad zu nehmen.

Als guter Schwimmer schwamm er wie gewöhnlich ziemlich weit in’s Schwarze Meer hinaus und versank plötzlich vor den Augen des erschreckten Freundes. Obschon sofort alles angewandt ward, was Menschen vermögen, brachte man doch erst nach einigen
Stunden seinen Leichnam an’s Ufer. Tief erschüttert, wie verzweifelt über diesen unverständlichen Schlag des Herrn, zogen mehrere dieser Erweckten am nächsten Sonntag aufs Missionsfest, unter ihnen auch Frau X. Da lernten wir uns kennen, und sie erzählte mir nachmittags die ganze Geschichte.

„Was könnte der Herr mit solchem Thun bezwecken?” schloß sie erregt, Thränen in den Augen, ihre Erzählung. „Das scheint mir doch sehr klar zu sein”, gab ich zurück. „Sie und die andern erweckten Seelen dort haben den Herrn dazu gezwungen”.  „Wir?” schrie sie fast auf. „Ja, Sie haben sich an das Werkzeug gehängt und drüber vernachlässigt, Ihre persönliche Stellung zum Herrn in Ordnung zu bringen. Das sah der Herr. Es drohte Gefahr für des jungen Evangelisten Seele, wenn ihm alle diese gebildeten und vornehmen Damen Weihrauch streuten, und es drohte Ihnen Gefahr, in eine Art Menschenvergötterung hineinzukommen. Daher ward’s im Himmel beschlossene Sache, daß das brennende und scheinendeLicht, in dessen Licht Sie eine kleine Weile fröhlich sein wollten, aus Ihrer Gemeinde fort müsse. Zu dem Zweck fügte es der Herr, daß jener Ruf aus der Schweiz an Ihren Evangelisten erging. Hätte er und hätten Sie darin des Herrn Willen erkannt, dann predigte Ihr Freund jetzt seinen schweizerischen Landsleuten. Da Sie es nicht einsahen und alles aufboten, um ihn zu halten, und auch er schwach genug war, Ihnen nachzugeben, hat der Herr anders eingegriffen. Sie, als die damit schwerer gesündigt haben, haben durch den Schmerz mehr Strafe erlitten, als er, den der Herr aus einer Gefahr eitel zu werden, herausgerissen und heimgebracht hat.”

Eine Weile schwieg mein Gegenüber, dann brach sie in Schluchzen aus und weinte: „O, Sie sind furchtbar hart!” Später hat sie aber eingesehen, daß ich recht haben mochte, und wir wurden gute Freunde. Oft hat sie in den nächsten Jahren den weiten Weg nicht gescheut, um ein paar Tage bei uns zu wohnen. Bisweilen kam sie mit ihren zwei jüngsten Töchtern auf acht Tage zu uns, und wir hatten viel Anregung durch diese Besuche. Denn Frau X. war in ihrem inneren Leben durch jenen und andere schwere Schläge schnell gereift, und da gab es tiefe christliche Gespräche, die für Gleichgesinnte zu den edelsten Freuden auf Erden gehören. Auch wir besuchten sie zuweilen in dem zehn Meilen entfernten Städtchen, und dann mußte ich natürlich in dem oft lange Zeit verwaisten Kirchlein predigen .

Die Anregung, die von jenem Evangelisten damals ausgegangen ist, ist bis jetzt noch nicht verlöscht; die Gemeinde hatte sich gefunden und fester zusammengeschlossen und wächst seither in der Liebe und im Geiste ihres Meisters, der sich eben nichts von den Menschlein will in den Weg stellen lassen, wenn Er uns Seine Wege führen will.

Quelle:

Mein Fremdenbuch. Erinnerungen aus Russland. Von S. Keller (Ernst Schrill.)
Leipzig. Verlag von E. Ungleich. 1895. [S. 28-32; Digitalisat]


Eingestellt am 2. Juli 2025