Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. (Matthäus 7, 1)
Liebloses und hochmütiges Richten ist leider sehr häufig in den Reihen der Christen. Mit sehr ernsten Worten warnt der Herr davor (Matthäus 7, 2-5):
„Mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balken in deinem Auge? Ober wie darfst du sagen: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; danach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.“
Zuerst sollen wir uns selber richten und strafen; haben wir das getan, so sollen wir freilich den Bruder auch auf seine Fehler aufmerksam machen, denn es steht geschrieben: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen, sondern strafen [Luther: zurechtweisen]“ (3. Mose 19, 17). Nicht alles Richten ist unrecht. Werden wir doch aufgefordert, alles zu prüfen und nur das Gute zu behalten, und „nicht einem jeglichen Geist zu glauben, sondern die Geister zu prüfen, ob sie von Gott sind“ (1. Joh. 4, 1). Wenn wir nach dem Wort des Herrn das Heiligtum nicht vor die Hunde und die Perlen nicht vor die Säue werfen sollen, so müssen wir doch die Menschen und Umstände beurteilen, damit wir wissen, ob wir es mit solchen zu tun haben, und zwar aus Liebe zu den Menschen und zum Heiligtum. So sündigt auch Paulus nicht gegen das Verbot des Richtens, wenn er 1. Kor. 5, 13 sagt: „Tut von euch selbst hinaus, wer da böse ist“, so wenig wie der Herr, als er sprach: „Hört er die Gemeinde nicht, so haltet ihn als einen Heiden und Zöllner“ (Matth. 18, 17). Solches Richten entspringt nicht dem Hochmut und der Lieblosigkeit, sondern ist eine Frucht heiligen Eifers und wahrer Liebe.
(Hermann Heinrich Grafe)
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Das ist ein besonderes süßes Stück des Evangeliums. Denn richten ist eine schwere Sache. Wer richten will, sollte wissen: das geschah. Wie kann ich das aber wissen? Was sichtbar ist, kommt aus dem Herzen des Menschen heraus; ich aber bin nicht Herzenskenner. Wer richten will, muß wissen, was die Gerechtigkeit verlangt, damit der Schuld das widerfahre, was sie verdient, und der Guttat der Lohn zuteil werde, der ihr gebührt. Wer kann vergelten? Wie verkehrt verfahren wir in der Weise, wie wir einander die Ehre und die Schande zuteilen und den Lohn und die Strafe verwalten!
Du kannst nicht richten, sagte Jesus, du sollst es aber auch nicht. Können wir aber auf das Gericht verzichten? Eifrig sagte die jüdische Schar: gerichtet muß werden; das ist ein Teil unseres Gottesdienstes; das Gericht unterlassen heißt Gott verleugnen. Wie kann ich mit dem Sünder Gemeinschaft haben, ohne daß ich mich selbst zum Sünder mache, wie Bosheit dulden, ohne daß ich zum Widersacher Gottes werde? Wenn wir nicht richten, meinten sie, werden wir gerichtet. Nein, sagt mir Jesus; wenn du richtest, dann wirst auch du gerichtet. Dann hast du dich aus der vergebenden Gnade herausgestellt und unter Gottes Recht begeben. Dieses läßt dir aber nicht zu, daß du nur die anderen richtest und dich selber nicht. Das Gericht ist die Enthüllung der Wahrheit und ihre fehllose Verwirklichung. Daher duldet das Gericht keine Heuchelei und läßt mir nicht zu, daß ich mich freispreche, dagegen die anderen richte, und weil ich Gottes Gericht gegen mich habe, so weiß ich, daß ich mit meinem Urteil, das den anderen trifft, mich selbst verdamme. Was soll ich denn tun? Jedes Gebot kann nur dadurch erfüllt werden, daß ich anstelle des Bösen das Gute tue. Vergeben sollst du, sagt mir Jesus. Wir müssen richten, sagten die Juden, und können nicht vergeben; denn vergeben kann Gott allein. Die Antwort Jesu war: Gott kann nicht nur vergeben, sondern hat euch vergeben, und weil er euch vergeben hat, vergebt auch ihr. Sein Vergeben bringt nicht Unfug und Wirrwarr in der Welt hervor; denn es richtet den Schuldigen auf und macht seiner Bosheit ein Ende. Du vermehrst, sagt mir Jesus, mit deinem Richten die Sünde und belädst dich selbst mit ihr. Vergib, so überwindest du das Böse mit Gutem, und das ist der einzige Weg, wie es überwunden werden kann.
Ich bete Deine Gnade an, die meine Sünde nicht richtet, weil sie mir in Deinem lieben Sohn den Versöhner gegeben hat. Nun rüste mich mit der Waffe aus, die mich stärker als die Sünde macht und die Bosheit zu überwinden vermag, mit dem heilenden Vergeben, das aus Deinem Vergeben stammt.
Amen.
Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter
Diese Schriftstelle ist der Tagesvers zum 13. Juli 2025