Lukas 22, 31-34: Sichtungszeiten

«Der Herr aber sprach: Simon, Simon, siehe, der Satanas hat euer begehrt, daß er euch möchte sichten wie den Weizen; ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre; und wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder! Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen! Er aber sprach: Ich sage dir, Petrus: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe denn du dreimal verleugnet hast, daß du mich kennest!» (Lukas 22, 31-34).

Sind das nicht wieder Worte, wie unmittelbar zu uns gesprochen! Wir können sie kurz überschreiben:

Jesu Wegweisung für Christen in Sichtungszeiten

I.

In Gottes Welt- wie Lebensplan gibt es besondere Sichtungszeiten. Immer liegt auf dieser Erde, in der ganzen Menschheit wie in jeder Gemeinschaft durcheinander Korn und Spreu, wertvolles, lebens- und zukunftsvolles Weizenkorn und wertlose Spreu. In der Menschheit aber ist beides schwer zu unterscheiden. Von Personen, die äußerlich auf den ersten Blick gleich wertvoll erscheinen, erweisen sich allmählich die einen als ganz gehaltlos, die anderen als gehaltvoll. Auch in den Einzelleben liegt oft nebeneinander manches Solide und Starke neben vielem nur angeflogenen Konventionellen, daher nicht Wurzelhaften. Das gilt von allem Irdischen, selbst vom edelsten Leben, dem religiös-sittlichen. Treffend hat man gesagt: «Jede Religion gewinnt durch die Zeit nichts, sondern verliert nur. Wenn nicht immer wieder ein Sturmwind über sie herfährt und sie reinigt, erstickt sie in ihrem eigenen dürren Laube.» Ja, so ist es wirklich. Was Korn, was Weizen war, darüber wird einst die Ewigkeit entscheiden, aber auch schon die Weltgeschichte ist das Weltgericht Gottes und in ihr besonders die Sichtungszeiten. Woran erkennen wir sie?

Zeiten sind es, wo sich zeigt, wie die Menschen und auch die Gemeinschaften so winzig klein und in der Gewalt von Riesengeistesmächten sind. Jesus sagt: Satan begehrt da die Menschen zu sichten; genau übersetzt: Gleichwie einst bei Hiob bittet er sich das von Gott aus, und öfters wird es ihm gewährt. Gleich Stürmen entfesselt Gott da finstere dämonische Gewalten, kräftige Irrtümer und wilde Leidenschaften und lässt sie über seine Tenne blasen und die zu leichte Spreu wegtragen. Er läßt das fortgesetzte soziale Sündigen einer Gesellschaftsschicht eine nicht weniger sündige wilde Reaktion von der anderen, erst mißhandelten Seite hervorrufen. Er läßt verschiedene Stürme aufeinanderplatzen, aber immer so, dass sie seinen Zwecken der notwendigen Sichtung dienen. Übrigens erscheint der Satan nicht immer in nackter Bosheit, deutlich erkennbar an der Macht schlimmster Verführung; oft auch, ja überwiegend, erscheint er in den Mächten des unpersönlichen Leidens, der Angst und des Todes.

Fraglos erleben wir heute eine sonderliche Sichtungszeit. Gott hat Satan Gewalt gegeben, in diesen Jahren der Finsternis seine Christenheit zu versuchen. Und wie sind die Sichtungszeiten für den Weizen nötig, um ihn von den verderblichen Ansteckungsstoffen der Menschheitsspreu zu reinigen.

Aber Jesu Worte hier sind nicht zunächst Belehrung, sondern ein liebevoller, schwer besorgter Warnungsruf: «Die Gefahr ist riesengross!» Dringt er dir zu Herzen? Oder sprechen viele wie Petrus: Ich fühle mich sicher, ich bin bereit. Ich werde mich schon zu halten wissen, selbst bei Gefängnis, Hunger, ja Tod.

Doch Jesus bangt hier am meisten gerade um den sichersten der Jünger, um Simon; und darum auch besonders für jeden unter uns, der nicht zusammenschrickt vor der Sichtungszeit. Warum das? Nun, gewiß haben alle in ihrem Seelenleben nicht wenige Seiten, wo sie für die sichtende Macht des Bösen leicht faßlich und verwundbar sind. Aber bei den Sicheren ist die Lage noch arg verschlimmert, weil in ihnen all das an sich Gefährliche noch durchzogen ist vom Schlimmsten, vom Hochmut. Lassen wir uns darum vor allem in dieser Zeit, ehe noch der eigentlichste Sichtungsorkan heranbraust, auf Herzen und Nieren prüfen, ob nicht am Ende auch in uns dieser Hochmut ist. Denken wir dabei nicht nur an die ganz widerliche Eitelkeit und Aufgeblasenheit. Hochmütig ist jeder, der geneigt ist, den anderen zu unterschätzen, auch seine Feinde und Gefahren, und sie von vornherein gering achtet, ob er damit auch schon öfters schlimme Erfahrungen gemacht hat.

Zweitens überschätzt der Hochmütige immer sich selbst und meint als Individuum wie Gemeinschaft mit seiner Kraft und seinen irdischen Verbindungen, die er seiner Klugheit verdankt, schon auszukommen. Wozu da noch um Gott, um Gottes Gnade und einen ewigen Rückhalt an ihr sich bemühen?

Der Hochmütige ist eben wie Petrus verblendet. Am Abgrund stehend, nur wenige Stunden vor dem drohenden Furchtbaren, nachdrücklichst darauf vorbereitet und aufmerksam gemacht, sieht er doch nichts davon. Er ist immer noch oberflächlich, nicht tiefer überlegend, die Gefahr übersehend und alles leicht nehmend.

Wehe aber jedem Leben, wo mehr Schale ist, als fester, edler Kern. Wehe jedem hochragenden, aber innerlich ausgehöhlten Baum. Wehe ihm, wenn der Sichtungsorkan heranbraust!

II.

Was dann? Als Schlimmstes befürchtet Jesus hier, für Petrus wie für alle seine Jünger, daß ihr Glaube aufhören könnte. Ja, das droht wirklich jedem, wenn ein Eindruck, ein Erleben schrecklicher Bosheit dem andern folgt, und die Seele durch und durch erschüttert, hin und her, ja wund gerissen wird. Welch eine Gefahr, daß das Glaubensband, das sie an Gott bindet, zerreißt, daß das innere Licht, das ihr im Dunkel verhilft, dennoch die göttliche Gerechtigkeit und Leitung, gleich Sternen zu sehen, erlischt und es ganz finster in ihr wird, so daß die bisher ihr so gotterfüllte Welt ihr öde und leer scheint. Aber wenn auch dieses Furchtbarste von uns, wie von den Jüngern damals, abgewandt werden sollte, so droht uns doch wie Petrus ein anderes, ein tiefer Fall, ja Verleugnung. Wenn auch der Glaube nicht verlischt und die Seele gerettet wird, die Gefahr bleibt, daß sie auf die Dauer geknickt wird und Schaden nimmt. Aber auch, wenn es uns in der Sichtung gehen sollte wie den anderen zehn gläubig bleibenden Aposteln, wie schrecklich schon, wenn wir, wie sie, in der Sichtungszeit versagten, erbärmlich, schwach würden, und nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf unseren Herrn und seine große Sache Schande brächten!

Seht, dieses alles droht uns. Schrecklicher, als nach tapferem Bekenntnis und nachdem wir uns fest und treu gehalten, all unser Erdengut, unsere Gesundheit und unser Leben hinzugeben, werde es uns, unseren Glauben zu verlieren und zu verleugnen.

III.

Wie können wir aber nun aus diesen uns fraglos sehr, sehr drohenden Gefahren gerettet werden?

Erkennen wir Menschenkinder uns vor allem immer als hineingestellt und abhängig, emporgehoben oder herabgezogen, von grossen, widerstreitenden, überwiegend geistigen Gewalten.

Natürlich sollen wir uns nicht beständig sorgend ausmalen all die drohenden Gefahren und Schrecken. Wohl aber halten wir fest: Es können jederzeit um und wider uns satanische Mächte entfesselt werden, durch die auch ein an sich starker Mensch leicht, gleich einer schwachen Rute, äusserlich wie innerlich zerbrochen werden kann, oder seelisch, zur Salzsäule verwandelt, hart und starr wird. Die Hauptlebensfrage angesichts jeder Sichtungszeit muß uns die nach einem möglichst starken Rückhalt und Bündnis mit einer anderen Geistesmacht werden.

Unser Evangelium zeigt uns eine solche Geistesmacht: Die Liebe Jesu Christi. Wie spricht sie aus diesen Worten! Lassen wir von ihr unsere Seele recht berühren! Wie liegt es ihr offenbar an den einzelnen Menschenseelen und besonders an jeder Jüngerseele. Auch an einem hochmütigen, immer tiefer sinkenden Petrus! In der Fürbitte Jesu für die schwergefährdete Seele tritt die Barmherzigkeit und Gnade Gottes besonders hervor. Merken wir uns recht: In Sichtungszeiten, wo uns die Macht der Bosheit wie ein eisiger Nordsturm, uns selbst innerlich erkältend, anweht, hilft es uns nicht, daß irgendwo ein Gott waltet und uns äußerlich bewahrt, auch durch Schicksalsfügungen manche Versuchung abwendet. Wir bedürfen vielmehr einer ganz innigen Verbindung mit einer Geistesmacht, die für uns betet und persönlich am Einzelnen teilnimmt, ihn persönlich hält und durchdringt. Gott sei gelobt, daß ein jeder diese Gemeinschaft mit Gewißheit für sich erhoffen kann, da sie ja Gnade und Barmherzigkeit ist. Will sie doch nicht nur Helden und hochwertvolle Charaktere, sondern auch die Schwachen, wie es die Mehrzahl der Apostel waren, auch einen hochmütigen Petrus, dennoch aus der Sichtung heraus retten.

Aber Jesus betont, dass es auch von unserer Seite eines Wichtigen bedarf. Nicht nur nach einer böse verlaufenden Sichtungszeit, sondern auch schon in ihr und vor allem vor ihr, sollen wir uns bekehren. Meine Lieben, stoßen wir uns nicht an diesem Wort. In solchen Zeiten bedürfen wir alle der Bekehrung, wenn auch in verschiedener Weise; auch Gläubige, ja selbst sie, die, wie einst Petrus, ein herrliches persönlichstes Glaubensbekenntnis abgelegt haben. Forschen wir da alle, alle, ein jeder für sich: Wovon soll ich gerade mich bekehren? Wehe, wenn Satan bei den Gläubigen so manchen Anknüpfungspunkt findet, oder gar sündige, innere Gebundenheiten, oder noch geduldete Sünden, oder ein Nachlassen der Sündenfeindschaft überhaupt. Da gilt es in jedem Fall, angesichts der drohenden Gefahr: Brich ab und kehre um mit ganzer Entschiedenheit. Christenmensch, bekehre dich endlich gründlich von jedem Hochmut und Selbstvertrauen. Bekehre dich heißt aber: Lasse dich endlich durch Jesu Wort und Jesu Geist innerlich, gründlich demütigen, damit dieses nicht durch Satans Versuchungsmacht schrecklich geschehen muss. Bekehre dich vom Hochmut zu Gott und lerne in dieser furchtbar ernsten Zeit dein Vertrauen ganz zu setzen auf seine tägliche, stündliche Gnade und geistige Barmherzigkeit in Christo Jesu.

Wer sich so beizeiten bekehrt, bekehren läßt, dem kann Satan bei der Sichtung nichts anhaben.

IV.

Wie sollen denn Christen in nahende Sichtungszeiten hineingehen und in ihnen stehen?

Wir können Jesus nicht völliger mißverstehen, als wenn wir meinen, er wolle uns ängstlich, verzagt machen, vor jeder Gefahr scheu ausweichend. Vielmehr will er, dass wir der Sichtung entgegengehen, heilig, demütig, und tief ernst, aber doch getrost und mutig, voll Zuversicht, daß wir als Weizen bleiben und weiter Frucht bringen werden.

Daß Jesus bei allem warnenden Ernst eine solche tapfere, aufrechte Haltung bei den Seinen will, das zeigt er am deutlichsten, wenn er hier seinem Sorgenjünger, dem hochmütigen, fallenden Petrus, zugleich mit der erschütternden Warnung dennoch aufträgt und verheißt: Wenn du dich dereinst bekehrst, so stärke deine Brüder. Stark will Jesus seine Jünger also in der Sichtung haben. Und sobald sie nur von ihren ob noch so schlimmen Sünden sich gründlich und von ganzem Herzen zu der allmächtigen Gnade bekehren, dann sollen sie stark sein.

Das verheißt er: In der Stunden der Versuchung wird allen, die nur immer wieder sich hinkehren zu ihrem Erlöser, dann gegeben werden Kraft, genug Kraft, ihnen selbst erstaunlich viel Kraft. Ja sie, die Demütigen und zugleich Glaubensmutigen, werden so stark sein, dass sie auch andere werden halten und stärken können.

Amen.

Traugott Hahn
(1875-1919)

Quelle:

Traugott Hahn: Glaubet an das Licht. Ein Jahrgang Predigten nebst Anhang (nach seinem Tode herausgegeben). C. Bertelsmann, Gütersloh, 1925

abgedruckt in:

KOMM, Nr. 64, Juli 2018 – Zeiten der Sichtung

Schriftenarchiv – Predigten, Texte, Bilder: Sichtungszeiten, von Traugott Hahn (als pdf)


Eingestellt am 8. Dezember 2023