Apostelgeschichte 22, 17-21 (Christlieb)

Es geschah aber, da ich wieder gen Jerusalem kam und betete im Tempel, daß ich entzückt ward und sah ihn. Da sprach er zu mir: Eile und mache dich behend von Jerusalem hinaus; denn sie werden nicht aufnehmen dein Zeugnis von mir. Und ich sprach: HERR, sie wissen selbst, daß ich gefangen legte und stäupte die, so an dich glaubten, in den Schulen hin und her; und da das Blut des Stephanus, deines Zeugen, vergossen ward, stand ich auch dabei und hatte Wohlgefallen an seinem Tode und verwahrte denen die Kleider, die ihn töteten. Und er sprach zu mir: Gehe hin; denn ich will dich ferne unter die Heiden senden! (Apostelgeschichte 22, 17 – 21)

Die Vision des Saulus im Tempel zu Jerusalem.

Unser Text redet von einer außerordentlichen Erfahrung, die Paulus machen durfte („Ich ward entzückt und sah ihn“). Weil immer wieder manche nach solch besonderen Erlebnissen trachten, mag es lehrreich sein, dreierlei zu beachten. Wir fragen, wem, wann und wozu sie geschenkt wurde.

I.

Wir wissen aus der Schrift, welch ein Meer von Nöten und Schwierigkeiten den jungen Saulus umgab. Verfolgung an den verschiedensten Seiten bedrohte ihn. Wenn man sein Leben nach der Damaskusstunde betrachtet, könnte man fast sagen: Das war ja nicht zum Aushalten! – Was dieser Mann an Verfolgung, an Mißtrauen, an Unannehmlichkeiten und Nöten zu durchkosten hatte, das mußte ihn ja fast zur Verzweiflung treiben!

Hier aber vernehmen wir, daß Saulus nicht nur Verfolgung, Haß, Verkennung und dergleichen nach seiner Bekehrung erlebte, sondern daß er auch Erquickungen und Stärkungen besonderer Art empfing.

So macht es der Herr auch heute. Wo seine Jünger in Zeiten der Verfolgung und Drangsale stehen, weiß er ihnen Labsale zu senden, von denen die Welt keine Ahnung hat. Wenn Elias von der Isebel verfolgt wird und unter dem Wachholder matt zusammensinkt, empfängt er eine Engelspeise und ein Wort, das ihn aufrichtet (1. Könige 19, 5ff.).

Gerade in der Zeit, als neidische Nachbarn ihm alle Brunnen zustopften, empfing Isaak die Zusicherung Gottes, daß er mit ihm sei und ihn segnen werde.

So erfuhr auch Saulus gerade in jener Zeit der ersten Nöte und Verfolgungen nach seiner Bekehrung eine himmlische Labung in der Entzückung, die ihm zuteil wurde.

Merkt das, ihr Seelen, die ihr mehr als andere in Leidenstiefen hineinkommt: Der Herr weiß die Elenden zu erquicken zur rechten Zeit. Ihnen sendet er die Hilfe, die sie brauchen. Er erfüllt das Wort: „Ich will eine Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt“ (Psalm 12, 6).

II.

Wann wurde diese besondere Erfahrung dem Saulus zuteil?

Unser Text nennt uns Zeit und Umstände, unter denen Saulus das Gesicht empfing. „Es geschah, da ich betete, daß ich entzückt ward“.

Saulus bekam also diese besondere Erleuchtung, während er das Angesicht Gottes in der Stille suchte und mit Gott Gemeinschaft pflegen wollte.

Gewiß kann Gott zu allen Zeiten die Seinen erquicken. Aber er tut es doch besonders oft, wenn sie beten. Welche sein Angesicht suchen, die werden erquickt“ (Psalm 34, 6).

(Anm.: Der Schluß dieser Betrachtung ist nicht vorhanden)

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Eine aussichtslose Arbeit.

Wenn wir der wunderbaren Unterredung zwischen Jesus und Paulus im Tempel zu Jerusalem lauschen, so fällt uns auf, daß – menschlich geredet – eine Meinungsverschiedenheit zwischen Jesus und Paulus entstand. Worin bestand dieselbe? Der Herr erklärte die Tätigkeit des Saulus in Jericho für aussichtslos. Saulus dagegen hielt sie für hoffnungsvoll. Bei diesem Unterschied laßt uns verweilen.

I.

Wenn wir die Einwendung des Saulus hören („Herr, sie wissen selbst, daß ich gefangen legte…“), so ist das eine menschliche Berechnung. Saulus denkt, weil seine frühere feindliche Stellung gegen das Christentum stadtbekannt sei, so müsse gerade sein Zeugnis besonderen Eindruck machen und Frucht bringen.

Diese Berechnung schien richtig zu sein. Sollte man nicht annehmen, daß die Sinnesänderung eines solch fanatischen Christusfeindes ihre Wirkung nicht verfehlen könne? Sollte da nicht die Stellung aller übrigen Christusfeinde erschüttert werden, selbst die der Mitglieder des Hohen Rates?! Wie oft ist es späterhin auch wirklich so gewesen, daß die Bekehrung eines Hauptgegners Christi Anlaß zur Erweckung wurde! Die Berechnung von Paulus schien also richtig zu sein.

Dennoch verwirft der Herr sie. Er sagt: „Sie mögen noch so viel wissen von deiner früheren und jetzigen Stellung. Trotzdem wird dein Wort bei ihnen nicht angenommen werden“.  Hier wollen wir die erste Lehre aus dieser Mitteilung ziehen: Im Reich Gottes ist menschliche Berevchnung etwas sehr Unsicheres. Wir können mit unserem Verstand noch so feine Pläne entwerfen und noch so sicher auf Erfolg rechnen. Wenn Gott einen anderen Weg geht, so nützt unsere beste und klügste Berechnung gar nichts. Darum: „Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlaß dich nicht auf deinen Verstand“ (Sprüche 3, 5).

Berechnen konnte auch ein kluger Ahitophel. Berechnen konnte auch ein raffinierter Judas. Berechnen konnte auch ein gewissenloser Kaiphas. – Menschliche Klugheit aber macht Bankrott.

Wie klug berechnet ein Mose: Wenn ich als Sohn der Tochter Pharaos mich auf die Seite des unterdrückten Sklavenvolkes stelle, so werden sie das hören und mir jauchzend zufallen. (Apostelgeschichte 7, 25). Die Berechnung schien richtig. Aber es kam anders. Sie vernahmen nichts und lehnten ihn als Führer und Retter ab!

Laßt uns doch niemals allzu fest auf unsere Klugheit und unsere menschlichen Berechnungen bauen.

II.

Nicht nur eine kluge Berechnung wird zuschanden. Eine zweite Beobachtung drängt sich uns auf: Auch die richtigste und vollkommenste Arbeit kann fruchtlos bleiben. Der Herr sagt: „Sie werden nicht annehmen dein Zeugnis von mir“ (Vers 18).

Was ist die beste und richtigste Arbeit im Reich Gottes? Ein wirkliches Zeugnis von Jesus, wie Saulus es gewohnt war. Er hielt nichts von klugen Vorträgen, sondern bezeugte den Heiland, den er aus Erfahrung kennengelernt hatte.

War diese Arbeit nicht mustergültig? Sollte man nicht sagen: Solch ein Zeugnis von Jesus muß Frucht schaffen, weil Jesus selber gesagt hat: „Ihr sollt meine Zeugen sein!“ (Apostelgeschichte 1, 8). Und doch! Wohl wird des Saulus Arbeit nicht getadelt und keine Änderung derselben verlangt. Der Herr aber teilt ihm mit: „Man wird dein Wort nicht annehmen!“.

Das sagt uns: Nicht jede Arbeit, ob sie auch der Vorschrift Jesu entspricht, muß Frucht schaffen. Man kann Arbeit tun, an der keiner etwas auszusetzen vermag, die Jesus zum Inhalt hat, deren Träger ein lauterer Zeuge Jesu ist, und dennoch bleibt eine Erweckung zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten aus.

Es ist sehr heilsam, seine Arbeit zu prüfen, ob sie ein wirkliches Zeugnis für Jesus ist. Es ist aber nicht gut, zu verzweifeln, falls diese Arbeit nicht das ausrichtet, was wir erhofften und wünschten.

Hat nicht auch Jesus in seiner Vaterstadt kaum etwas ausrichten können? Haben nicht Jeremia und andere Propheten das lautere Wort Gottes richtig gebracht? Und doch mußten sie betrübende Erfahrungen machen.

Nicht jede richtige Arbeit hat in jedem Falle die Verheißung des von uns gewünschten Erfolges. Trotzdem bleibt es dabei: „Mein Wort soll nicht leer zurückkommen“ (Jesaja 55, 11).

III.

Eine noch schmerzlichere Erfahrung macht Saulus. Seine Einwendung enthielt eine stille Bitte, ob ihm nicht doch ein Fruchtbringen im eigenen Volk geschenkt werden könne. Glühende Liebe zu seinem Volk legt ihm die Worte auf die Lippen. Wird er wohl erhört?

Nein! Die in seinen Worten liegende Bitte wird abgeschlagen.

Auch daraus wollen wir lernen. Nicht jede Berechnung, ob sie noch so richtig erscheint, nicht jede Arbeit, ob sie noch so gut sein mag, auch nicht jede Bitte, ob sie noch so dringend ist, erreicht das von uns gewünschte Ziel. Gewiß ist Gebet das wirksamste Mittel im Reich Gottes und hilft mehr als alle Klugheit, Begabung und Anstrengung. Wir wollen auch allzeit das Gebet als Hauptwaffe führen und uns durch nichts davon abbringen lassen.

Aber wir wollen nie meinen, daß wir durch unser Gebet gerade den von uns gewünschten Erfolg in jedem Fall erzielen müßten.

Einem Mose wird die Bitte abgeschlagen, in das Land der Verheißung zu kommen. Einem Elias wird versagt, unter dem Wacholder zu sterben. Einem Paulus wird die erbetene Wegnahme des Pfahles im Fleisch nicht zuteil.

Aber der Herr hat auch einen herrlichen Trost für Paulus. Er erteilt ihm den kostbaren Auftrag, Apostel der Heiden zu werden!

Nun ist es dem Paulus nicht mehr so bitter und schmerzlich, daß Jesus ihm seine eigenen Pläne zerschlägt! Nun ist er mehr als getröstet!

Auch wir wollen uns nicht entmutigen lassen, wenn der Herr Jesus unsere Berechnungen durchkreuzt und unsere Pläne verwirft. Nimmt er uns etwas, so gibt er uns Besseres dafür wieder. Wir werden ihn treu erfinden nicht nur darin, daß er unsere Gebete, Berechnungen und Arbeiten gelingen läßt, sondern auch darin, daß er uns zuweilen auch zuschanden werden läßt. Das mag treue Jünger und Zeugen Jesu in bestimmten Lagen trösten, damit sie nicht mutlos werden.

Quelle: P. Alfred Christlieb, Der Apostel Paulus, S. 421-425.
Druck und Verlag: Adolf Reuter, Wiehl (Bez. Köln), 1936.

Verweise auf Bibelstellen: bibeltext.comSermon online

Schriftstellen

«Und er [Elia] legte sich und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß!» (1. Könige 19, 5)

«Weil die Elenden Gewalt leiden / und die Armen seufzen, / will ich jetzt aufstehen», spricht der HERR, / «ich will Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt.» (Psalm 12, 6)

«Welche auf ihn sehen, die werden erquickt, und ihr Angesicht wird nicht zu Schanden.» (Psalm 34, 6 – Luther 1912)


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Eingestellt am 15. September 2025  –  Letzte Überarbeitung am 16. September 2025