Christus am Kreuz in der Marienkirche Wechold: Jeanette Atherton
Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir treten jetzt in das „Sanctissimum“ unseres Prophetenbuches, in das Allerheiligste, ein. Es ist der Gipfel des Alten Testaments, der am höchsten in die Sphäre des Neuen Testaments hineinragt.
Einzigartig in der Form; denn es scheint, als ob der Prophet von erlebter Vergangenheit redet. Einzigartig im Inhalt: kein Kapitel des Alten Testaments hat eine solche, oft in äußerliche Einzelheiten reichende Erfüllung gefunden. Man hat die Evangelien Passionsgeschichten mit einer Einleitung genannt (Martin Kahler), um zu betonen, wie schon den Evangelisten das Zeugnis von Jesus vor allem das Zeugnis seines Kreuzes ist. An diesem Maßstab gemessen, ist unser Abschnitt dem Neuen Testament und den Evangelien am nächsten.
Äußerlich gesehen, ist dieses Kapitel das mittelste der siebenundzwanzig Kapitel dieses prophetischen Zeugnisses. Wie das Herzblatt einer Knospe ist es von den vorangehenden und nachfolgenden Kapiteln umschlossen.
(Hans Brandenburg: Das lebendige Wort – Jesaja II)
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„Er war der Allerverachtetste und Unwerteste.“
Es ist etwas ganz Verwunderliches, daß die Menschen von Natur aus alle den Herrn Jesus nicht lieb haben. Nichts offenbart so klar das völlige Verderben unseres Geschlechts wie die Tatsache: „Er war der Allerverachteste und Unwerteste“. Es war ja auch unmöglich, daß die Finsternis hätte Gemeinschaft haben können mit dem Licht, noch Christus mit Belial. Der gefallene Mensch konnte nicht mit Jesu wandeln, denn die beiden sind unvereinbar. Es war nur die notwendige Folge einer Begegnung solcher Gegensätze, wenn das schuldbeladene Geschöpf den Vollkommenen haßte. „Kreuzige ihn, kreuzige ihn“, lautet stets der empörerische Ruf des gefallenen Menschen.
Aber ein weiteres Wunder verdrängt das erste aus dem Kreis der Betrachtung: Waren wir darüber erstaunt, daß die Menschen Jesus nicht lieb haben, so ist es noch viel erstaunlicher, daß überhaupt je ein Mensch Ihn liebt. Dort mußten wir die schreckliche Verblendung wahrnehmen, die den Glanz der Sonne nicht bemerkte; wir sahen es mit Schrecken und waren sehr bestürzt; aber hier sehen wir, wie Jesus von Nazareth die Augen des Blinden auftut, und mit dem göttlichen Strahl Seines herrlichen Lichts die ägyptische Finsternis zerstreut. Ist dies ein geringeres Wunder? Bietet die fürchterliche Raserei des Besessenen bei den Gräbern einen entsetzlichen Anblick dar, so stehen wir vor einem ganz unbegreiflichen Wunder, wenn man denselben Menschen bekleidet und vernünftig zu Jesu Füßen sitzen sieht. Wahrlich, das ist ein Triumph der Gnade, wenn das Herz des Menschen dahin kommt, daß es sich Jesus mit großer Liebe hingibt; denn es beweist, daß Satans List ohnmächtig bleibt und der Mensch aus seinem gefallenen Zustand wieder zurecht gebracht ist.
Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.
Da siehst du den strengen Zorn und unwandelbaren Ernst Gottes über die Sünde und Sünder, daß er auch Seinem eigenen allerliebsten Sohn nicht die Sünder hat losgeben wollen, er täte denn für sie eine schwere Buße. Was will dem Sünder begegnen, wenn das liebste Kind so geschlagen wird? Es muß ein unaussprechlicher Ernst da sein, dem so eine große unermeßliche Person entgegengeht und dafür leidet und stirbt, und wenn du recht tief bedenkst, daß Gottes Sohn selbst leidet, so wirst du wohl erschrecken, und je länger je tiefer. Die Sünde muß ganz getötet sein, oder sie wird dich töten.
„Durch Seine Wunden sind wir geheilt.“
Pilatus überantwortete unsern Herrn und Heiland den Kriegsknechten, daß sie Ihn kreuzigten. Die römische Geißel war ein furchtbares Marterwerkzeug. Es war aus Ochsensehnen verfertigt und hier und da waren scharfe Knochensplitter in den Sehnen befestigt, so daß diese Knochenstücke jedesmal, wenn der Geißelhieb niederfuhr, schreckliche Wunden verursachten und das Fleisch von den Knochen rissen. Unser Heiland ward ohne Zweifel an eine Säule gebunden und so gegeißelt. Schon vorher war Er geschlagen und mißhandelt worden; aber diese Geißelung durch die römischen Kriegsknechte verursachte Ihm gewiß eine weit entsetzlichere Qual. O meine Seele, stehe hier stille und traure über seinen armen, zerschlagenen Leib. „Seht, welch ein Mensch ist das! Ach, sehet seine Wunden!“
Du, der du an Jesum glaubst, kannst du Ihn anschauen, ohne Tränen zu vergießen, wenn Er so vor dir steht als ein Bild der leidenden, in Todesnot getauchten Liebe? In Seiner Unschuld ist Er schön wie die Lilie, und in der Rosinfarbe seines Blutes ist Er rot wie die Rose. Wenn wir die unfehlbare und selige Heilkraft verspüren, die Seine Wunden an uns beweisen, muß da nicht sogleich unser Herz zerschmelzen vor Liebe und Wehmut? Wenn wir je unsern Herrn Jesum lieb gehabt haben, so muß jetzt diese Liebesglut in unserm Busen stärker auflodern:
O große Lieb‘, o Lieb‘, ohn‘ alle Maße,
Die Dich gebracht auf diese Marterstraße!
Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden
Und Du mußt leiden!
Ich kann’s mit meinen Sinnen nicht erreichen,
Womit doch Dein Erbarmen zu vergleichen:
Wie kann ich Dir denn Deine Liebestaten
Im Werk erstatten?
Wir möchten gern in unser Kämmerlein gehen und in der Stille weinen, aber unsre Berufsarbeit erwartet uns, und darum wollen wir nun unsern geliebten Freund bitten, Er wolle das Bild seiner blutigen Wunden den ganzen Tag über eingegraben sein lassen auf den Tafeln unsrer Herzen, und am Abend wollen wir heimkehren, um seinen Umgang zu suchen und zu trauern, daß unsre Sünden Ihn so viel gekostet haben.
Versbetrachtungen: CLV Andachten (Archiv) ─ Der Prophet Jesaja ─ Jesaja 53, 3+5
Liedverse: Johann Heermann – Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen
Weblinks und Verweise
Das lebendige Wort, Band 6: Jesaja – Teil 2 (Jesaja 40-66): Das Trostbuch Gottes
[Digitalisat als pdf-, epub- oder Word-Datei, jeweils externe Links zu Sermon Online]
“Das Lamm Gottes” – Biblische Betrachtungen über Jesaja 53. Von Ernst Modersohn, Pastor in Blankenburg in Thüringen. Neumünster, Verlagsbuchhandlung von G. Ihloff & Co. Neu bearbeitet und herausgegeben von Thomas Karker, Bremen 2023.