1. Die Person des Propheten.
Ezechiel, (1, 3. 24, 24) d. i. יְחַוּק אֵל Gott stärkt, Ἰεζεκιήλ LXX u. Sir. 49, 8), in d. Vulg. Ezechiel, während Luther nach LXX den Namen Hesekiel schreibt, war der Sohn Busi’s aus priesterlichem Geschlechte und im J. 599 v. Chr., d. i. im 11. Jahre vor der Zerstörung Jerusalems mit dem Könige Jojachin, den Großen des Reiches, vielen Priestern und dem vornehmsten Teil der Bevölkerung Jerusalems und Juda’s ins Exil nach Babel geführt worden (1, 2. 40, 1 vgl. 2. Kg. 24, 14ff. Jer. 29, 1). Dort lebte er im nördlichen Mesopotamien an den Ufern des Chaboras inmitten einer Colonie deportierter Judäer in dem Orte Tel Abib (1, 1. 3, 15), verheiratet in einem eigenen Hause (3, 24. 8, 1. 24, 18). Im fünften Jahre seines Exils, d. i. im J. 595 v. Chr., wurde er zum Propheten vom Herrn berufen und wirkte in diesem Amte nachweislich 22 Jahre, da die jüngste seiner Weissagungen aus dem 27. J. seiner Verbannung (d. i. 572 v. Chr.) datiert ist (29, 17). Ueber seine sonstigen Lebensumstände und Schicksale sowie über seinen Tod ist nichts bekannt. Die apokryphischen Sagen bei den Kchv. und Rabb., daß er von einem Fürsten seines Volks, weil er dessen Götzendienst gerügt hatte, getötet und im Grabe Sems und Arphaxads begraben worden sei (vgl. Carpzov, Introd. II. p. 203 sqq.) u. a. sind ohne historischen Gehalt. Sicher ist nur so viel, daß er sein Leben unter den Exulanten, wo der Herr ihm seinen Wirkungskreis angewiesen, beschlossen und auch nicht, wie sein Zeitgenosse Daniel (vgl. Dan. 1, 21. 10, 1), das Ende des Exils und den Anfang der Erlösung Israels aus Babel erlebt hat, da seine Weissagungen hierüber nicht die leiseste Andeutung enthalten.
2. Die Zeit des Propheten.
Ezechiel ist Prophet des Exiles wie Daniel, aber in anderer Weise als dieser, der schon vor ihm, schon bei der ersten Einnahme Jerusalems durch Nebucadnezar unter dem Könige Jojakim, nach Babel weggeführt war, dort über siebenzig Jahre lang am babylonischen und medopersischen Hofe lebte und zeitweise sehr einflußrei che Staatsämter bekleidete. Daniel wurde von Gott in diese hohe Stellung, die ihm einen Einblick in die Gestaltung und Entfaltung des Weltreiches gewährte, versetzt, um von diesem Standpunkt aus die Entwicklung der Weltreiche im Kampfe gegen das Gottesreich erschauen und die unzerstörbare, alle Weltmächte überwindende Kraft und Herrlichkeit des Gottesreiches weissagen zu können. Ezechiel hingegen ward zum Wächter über das ins Exil deportierte Israel gesetzt und sollte in dieser Stellung das Werk der früheren Propheten, namentlich des Jeremia, an den er sich in seinen Weissagungen mehrfach anschließt, fortführen, seinen Volksgenossen das Gericht und das Heil Gottes predigen, um sie zum Herrn ihrem Gotte zu bekehren. ─ Um seine prophetische Tätigkeit, deren reife Frucht uns in seiner Weissagungsschrift vorliegt, richtig zu erkennen, müssen wir sowohl die Bedeutung des Exils für die Entwicklung des Gottesreiches ins Auge fassen, als auch die Verhältnisse, unter welchen Ezechiel wirkte, uns deutlich machen.
Was der Herr den Stämmen Israels, als sie noch an der Grenze des verheißenen Landes standen und sich anschickten dasselbe einzunehmen, durch Mose verkündigen ließ, daß er sie bei beharrlicher Uebertretung seiner Gebote nicht nur mit schweren Plagen züchtigen, sondern sie end lich auch aus dem Lande das sie einnehmen werden wieder herausreißen und unter alle Völker zerstreuen werde (Lev. 26, 14─45. Deut. 28, 15─68) ─ diese von allen Propheten nach Mose wiederholte Drohung war an den vom Hause Davids abgefallenen zehn Stämmen bereits durch die Assyrer vollstreckt worden, und ging nun durch die Chaldäer auch am Reiche Juda in Erfüllung. Unter dem Könige Jojakim fiel Nebucadnezar der König von Babel zum ersten Male in Juda ein, eroberte Jerusalem, machte sich Jojakim untertan und führte eine Anzahl israelitischer Jünglinge von edler Geburt und königlichem Geblüte, unter ihnen den Daniel, samt einem Teile der Tempelgeräte nach Babel ab um diese Jünglinge für seinen Hofdienst ausbilden zu lassen (Dan. 1, 1─7). Mit dieser Invasion der Chaldäer beginnen die von Jeremia geweissagten siebenzig Jahre der chaldäischen Dienstbarkeit und Wegführung Juda’s nach Babel. Da nämlich Jojakim schon nach drei Jahren von Nebucadnezar wieder abtrünnig ward, so nahm Nebucadnezar nach längerer Belagerung im dritten Monate der Regierung Jojachins Jerusalem zum andern Male ein und führte mit dem gefangen genommenen Könige und seinem Hofstaate die Obersten von Juda und Jerusalem, viele Priester und Krieger und die Zim merleute und Schmiede nach Babel ins Exil; nur das geringe Volk im Lande zurücklassend, über welches er den Oheim des deportirten Königs, Mathanja unter dem Namen Zedekija, als seinen Vasallen zum Könige einsetzte (2. Kg. 24, 10─17; Jer. 29, 2). Mit dieser Wegführung des kräftigen Kernes der Nation war die Kraft des Reiches Juda gebrochen, und wenn Nebucadnezar dasselbe auch damals noch nicht zerstörte. sondern als Vasallenreich unter seiner Oberherschaft noch fortbestehen ließ, so konnte dieser Fortbestand doch nicht von Dauer sein. Juda war zu tief gesunken, um in den erlittenen Schlägen schon die züchtigende Hand seines Gottes zu erkennen und sich bußfertig unter seinen gewaltigen Arm zu beugen. Anstatt auf die Stimme des Propheten Jeremia zu hören und das chaldäische Joch in Geduld zu tragen (2. Chr. 36, 12), setzten König und Volk ihr Vertrauen auf den Beistand Aegyptens, und Zedekija brach den Eid der Treue, welchen er dem Könige von Babel geschworen hatte (2. Chr. 36, 13).
Um diese Treulosigkeit zu strafen, zog Nebucadnezar von Neuem heran wider Jerusalem und machte mit Eroberung und Verbrennung der Stadt und des Tempels im eilften Regierungsjahre Zedekija’s dem Reiche Juda ein Ende. Der aus der belagerten Stadt entflohene Zedekija wurde von den Chaldäern gefangen genommen und mit seinen Söhnen nach Ribla vor den König Nebucadnezar geführt, welcher seine Söhne vor seinen Augen töten, dann ihm die Augen ausstechen und den Geblendeten in Ketten nach Babel führen ließ. Auch viele Kriegsobersten und höhere Priester wurden zu Ribla getötet, und die in Jerusalem Gefangengenommenen samt den Ueberläufern und einem großen Teile des übrigen Volks nach Babel ins Exil geführt (2. Kön. 25, 1─21, Jer. 52, 1─30). Mit dieser Katastrophe verlor das alttestamentliche Gottesreich seine staatliche Existenz, das Bundesvolk war nun aus seinem Lande unter die Heiden verstoßen, um die Strafe für seinen hartnäckigen Abfall vom Herrn, seinem Gotte zu tragen. Doch war diese Verstoßung unter die Heiden keine gänzliche Verwerfung Israels, sie war nur eine Suspension aber keine Vernichtung des Gnadenbundes. Der Menschen Untreue kann die Treue Gottes nicht aufheben. Trotz dieses furchtbaren, durch die schwersten Sünden herbeigezogenen Gerichts war und blieb ─ wie Auberlen, der Proph. Daniel S. 27 d. 2 Aufl. treffend bemerkt ─ Israel das auserwählte Volk, durch welches Gott noch seine Absichten an der Menschheit erreichen wollte. Seine Gaben und Berufung mögen ihn nicht gereuen (Röm 11, 29). Auch nach dem babylonischen Exile wurde der Gottesstaat nicht wieder hergestellt, das Bundesvolk erlangte nach der Rückkehr aus Babel seine Selbständigkeit nicht wieder, sondern blieb, abgesehen von der kurzen Zeit, da es unter den Makkabäern seine Unabhängigkeit sich erkämpft hatte, in beständiger Abhängigkeit von den heidnischen Weltherschern, bis es nach der römischen Zerstörung Jerusalems vollends unter alle Nationen der Erde zerstreut wurde. Aber mit dem äußeren Gottesstaate sollte die Wesenheit des Gottesreiches nicht untergehen, sondern nur in eine neue Entwicklungsphase treten, welche den Uebergang zu seiner Erneuerung und Vollendung in dem durch Christum aufzurichtenden Gottesreiche zu vermitteln bestimmt war. Zur Anbahnung dieses Zieles und zugleich den Exulanten zum Zeugnisse, daß Israel trotz seiner Verstoßung unter die Heiden noch Volk Gottes sei, ließ der Herr in dem Priestersohne Ezechiel, einen Propheten von ungemeiner Kraft und Energie inmitten der Exulanten aufstehen, „der wie eine Posaune seine Stimme erhob und Israel seine Missetat anzeigte, – dessen ganze Erscheinung den kräftigsten Beweis lieferte, daß der Herr noch unter seinem Volke sei, der selbst ein Tempel des Herrn war, vor dem der Scheintempel, der noch zu Jerusalem auf kurze Zeit stand, in sein Nichts zurück sank, ein geistlicher Simson, der mit kräftigem Arme die Säulen des Götzentempels ergriff und ihn zu Boden schmetterte, eine gewaltige, gigantische Natur, die eben dadurch geeignet war, den babylonischen Zeitgeist, der sich in gewaltigen, gigantischen, grotesken Formen gefiel, wirksam zu bekämpfen, allein stehend, aber einem Hundert von Prophetenschülern gleich geltend“ (Hgstb., Christol. II S. 531f.).
Die Berufung Ezechiels zum Propheten erfolgte im fünften Jahre der Regierung Zedekija’s, im vierten Monate des Jahres (1, 1 u. 2), in einem Zeitpunkte. in welchem unter den im Lande Zurückgebliebenen wie unter den nach Babel Weggeführten die Hoffnung auf den baldigen Sturz des babylonischen Reiches und der dann erfolgenden Rückkehr der Exulanten in ihr Vaterland sehr lebhaft war und durch Lügenreden falscher Propheten stark genährt wurde, vgl. Jer. 29.
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Quelle:
Carl Friedrich Keil und Franz Delitzsch (Hrsg.): Biblischer Commentar über das Alte Testament. Dritter Theil: Die prophetischen Bücher. Dritter Band: Der Prophet Ezechiel. Mit vier lithographischen Tafeln. Leipzig, Dörffling und Franke, 1868. [S. 1-4; Digitalisat]
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