Der Prophet Jeremia, d. h. Jehova schleudert Blitze oder, nach anderer Aussprache, Jehova ist erhaben, ein Sohn Hilkias, war aus Anatot gebürtig (jetzt Anâta, 5 km nordnordöstlich von Jerusalem), im Stamme Benjamin, und gehörte einem priesterlichen Geschlechte an. Er war unverheiratet (16, 2) und wurde im 13. Jahre des Königs Josia (628), als er noch jung war, zum Propheten berufen, so daß er im 3. Jahre Jojakims (605) schon 23 Jahre lang prophetisch gewirkt hatte (vgl. 25, 1-3). Die Anfänge Jeremias fallen mithin in die Zeit, wo in Ägypten Psamtik I. (der Anfänger der 26. der saitischen Dynastie), nachdem er mit der Dodekarchie aufgeräumt, als Alleinherrscher vom ersten Katarakt bis zum Mittelmeere glänzend regierte, seine Herrschaft noch weiter südwärts ausdehnend und auch das philistäische Ašdōd* bezwingend, die Schlüsselfeste Syriens.
*) philistäisch Ašdūd, hebräisch
Die Skythen**, die zwischen 630 und 620 bis an die Grenzen Ägyptens verheerend vordrangen, fand er gütlich ab; da ihm aber infolge seiner Begünstigung der Griechen im eigenen Lande Schwierigkeiten erwuchsen, konnte er sich in den Kampf der erstarkenden Meder und Chaldäer gegen das alternde Assyrerreich nicht einmischen.
**) siehe Jansen-Winkeln, Karl: Psametik I., die Skythen und der Untergang des Assyrerreiches (Archiv UB-HD)
Im Jahre 625 wurde Nabopolassar unabhängiger König von Babel; erst 609 unternahm Psamtiks Nachfolger Necho II. einen asiatischen Feldzug, um das damals noch den Assyrern unterworfene Syrien wieder zu erobern. In Juda hatte inzwischen unter Mitwirkung von prophetischen Männern König Josia den Kultus gereinigt und streng einheitlich gestaltet (623ff). Dieser tüchtige König stellte sich dem ägyptischen Heere entgegen, verlor aber bei Megiddo Schlacht und Leben (2. Kön. 23, 29.30); an seiner Stelle wurde durch das Volk des Landes also wohl ziemlich tumultuarisch ein jüngerer Sohn Josias (Joahas) auf den Thron gesetzt, den schon nach drei Monaten Pharao Necho II. zu Ribla im Lande Hamath gefangen nahm, indem er Juda zugleich eine schwere Kontribution auferlegte und den älteren Sohn Josias Eljakim einsetzte, der als König den Namen Jojakim führte (608-597, vgl. 2. Kön. 23, 31-36). Trotz des ernsten Widerspruchs von Jeremia, der sich damit heftige Verfolgungen zuzog, begünstigte er den Götzendienst, und die guten Früchte der Josianischen Reform gingen unter ihm bald wieder verloren. ─ Als nun die Herrschaft in Asien endgültig von Assur an Babel überging, konnten sich die Ägypter nicht länger in Syrien halten, sondern mußten infolge der Niederlage, die ihnen Nabopolassars Sohn Nebukadnezar, damals noch nicht selbst König, 605 bei Karkemisch am Euphrat beibrachte, ihren ganzen asiatischen Besitz fahren lassen.
Vielleicht schon ein Jahr früher war Ninive durch Nabopolassar, verbündet mit dem Meder Kyaxares, erobert worden; und nun wechselte natürlich auch Juda den Herrn. Jojakim geriet aus der ägyptischen in die chaldäische Abhängigkeit (2. Kön. 24, 1). Der Prophet Jeremia hatte schon vor dem Siege bei Karkemisch das Emporsteigen der Chaldäermacht geweissagt und ihr alle die kleineren Reiche Südwestasiens zugesprochen. Sowohl er als Habakuk schildern aufs anschaulichste den Schrecken, der vor dem kraftvollen jungen Adler Nebukadnezar herflog, und ahnen von dieser Seite her den völligen Untergang des Staates. Schon nach 3 Jahren (602) fiel Jojakim wieder ab, wahrscheinlich in der Hoffnung auf ägyptische Hilfe, die ihn nach gewohnter Weise im Stiche ließ, als Nebukadnezar mit Heeresmacht heranzog. Er unterwarf das nördliche Syrien, demütigte den abtrünnigen Vasallen und brachte alles Land bis an die Grenzen Ägyptens in seine Gewalt. Auf Jojakim, über dessen Ende wir nichts Sicheres wissen, folgte sein Sohn Jojachin auch Jechonja oder Chonja genannt, den Nebukadnezar zur Strafe für den Abfall seines Vaters nach wenig mehr als dreimonatlicher Regierung mit vielen Männern aus den höhern Ständen samt Handwerkern gefangen nach Babel führte (die erste Wegführung 597, 2. Kön. 24, 10-16). Als chaldäischer Vasall trat an seine Stelle der dritte Sohn Josias, Mattanja, als König Zedekia genannt (597-586). Man trug sich damals mit den kühnsten Hoffnungen, diese Exulanten, unter denen sich auch der Priester=Prophet Ezechiel befand, werden bald wieder zurückkehren und das Chaldäerjoch zerbrochen werden. Umsonst warnten Jeremia in Jerusalem und Ezechiel unter den Exulanten ernstlich vor solchen Selbsttäuschungen. Zedekia vermochte der Versuchung zum Abfall von Nebukadnezar nicht zu widerstehen, zumal Adel und falsche Prophetie ihn in diese verderbliche Richtung drängten. Auch er schielte wieder nach Ägypten und fiel, als dort nach Psamtik II., dem Sohn Nechos II., 589 Hophra zur Herrschaft gelangte, von Nebukadnezar ab (588, 2. Kön. 24, 20); aber sofort (2. Kön. 25, 1) rückte dieser mit Heeresmacht zur Belagerung Jerusalems heran, und nun mußten König und Volk es furchtbar büßen, daß sie kein Ohr für Jeremias Warnungen gehabt hatten. Auch jetzt handelte man gegen seinen Rat, die Stadt zu übergeben, um so das Äußerste abzuwenden. Einen Augenblick leuchtete die Hoffnung auf, als Pharao Hophra mit einem Heere im Süden des Landes zum Entsatz Jerusalems einrückte und Nebukadnezar sich genötigt sah, die Belagerung vorläufig aufzuheben. Als damals Jeremia die Stadt verlassen wollte, um nach Anatot zu gehen, wurde er als angeblicher Überläufer festgenommen gefangen gesetzt und sogar mit dem Tode bedroht; doch gewährte ihm Zedekia, dem er unentwegt Unterwerfung als einziges Rettungsmittel empfahl, mildere Gefangenschaft. Sobald die Ägypter zurückgeworfen waren, wurde die Not der wieder eingeschlossenen Stadt immer furchtbarer, da in ihr außer dem Schwert der Feinde auch Hunger und Pest wüteten. Sie fiel nach mehr als 18 monatlicher Belagerung (586); Zedekia wurde auf der Flucht in der Nähe von Jericho ergriffen, nach Ribla geschleppt, dort, nachdem vor seinen Augen seine Söhne und viele Vornehme hingerichtet worden, geblendet, sodann nach Babel geführt, wo er starb (2. Kön. 25). Der chaldäische Feldherr Nebusaradan bestrafte die rebellische Stadt, der Tempel und die besten Häuser wurden verbrannt, die Mauern geschleift und der bessere Teil der Bevölkerung deportiert.
_ Jeremia, den die Chaldäer achtungsvoll behandelten, nahm seinen Aufenthalt zuerst in Rama, dann in Mizpa in der Umgebung des ihm befreundeten chaldäischen Statthalters Gedalja. Als ein gewisser Ismael diesen meuchlerisch ums Leben brachte, erfaßte die zurückgebliebenen Juden eine solche Angst vor der Rache der Chaldäer, daß sie dem ausdrücklichen Rate Jeremias zuwider nach Ägypten auswanderten und den Propheten gegen seinen Willen mitnahmen. Nach einer Sage soll er dort von seinen Volksgenossen gesteinigt worden sein; wenn er, wie anzunehmen, etwa 650 geboren ist, so dürfte er nach einem Dasein so voll der aufreibendsten Kämpfe kaum mehr lange dort gelebt haben.
Bei keinem Propheten ist uns ein so tiefer Blick nicht nur in seine äußern Lebensschicksale, sondern auch in sein Innenleben vergönnt wie bei Jeremia. Wir lernen ihn kennen als einen Mann tiefer Empfindung und weichen Herzens, den die allgemeine Anfeindung und das Unglück des Vaterlandes auf das schmerzlichste verwundete. Die Botschaft, die er allen leichtfertigen Illusionen gegenüber immer wieder zu verkündigen hatte, zerriß sein Herz, und oft war er nahe daran, unter der Last seines Prophetenberufs zu erliegen. Sein Leben lang blieb er ein einsamer Mann, aber wiewohl von Natur nicht gerade mit heldenhaften Tugenden ausgestattet, wurde er doch in treuem Ausharren durch die Kraft seines Gottes „eine feste Burg, eine eiserne Säule und eine eherne Mauer gegen das ganze Land, die Könige und Fürsten Judas, die Priester und das gemeine Volk“ (1, 18).
Seine Sprache erreicht nicht die Majestät der Jesajanischen Rede, sondern hat etwas Weiches, Aufgelöstes, Lyrisches; aber sein ganzes Herz ist in diese bald wehmütigen, bald zürnenden Ergüsse ausgeströmt; seine Ausdrucksweise erinnert oft an die Sprache des Deuteronoms.
Über die Entstehung seines Prophetenbuchs gibt uns K. 36 lehrreichen Aufschluß. Jene von Baruch auf das Diktat Jeremias wiederhergestellte und noch um weitere Reden vermehrte Rolle ist ohne Zweifel dem jetzigen Buche einverleibt, aber nicht in unveränderter Gestalt, sondern aufgelöst als Materialiensammlung verwendet worden. Bald ist von Jeremia in der ersten, bald in der dritten Person die Rede; die Anordnung der einzelnen Stücke ist nicht genau chronologisch. Man wird annehmen dürfen, daß Jeremias Schüler und Jünger Baruch nach dem Tode des Propheten seine Reden sammelte; doch zeigt die von dem jetzigen hebräischen Text sehr abweichende Gestalt der alten griechischen Übersetzung, daß sowohl mit Bezug auf kleinere Bestandteile des Textes als auf die Anordnung der Reden die Überlieferung hier noch lange eine schwankende war. Seine gegenwärtige Gestalt erhielt das Buch jedenfalls erst in nachexilischer Zeit. Im großen und ganzen kann man unterscheiden:
1. Weissagungen gegen Juda K. 1─45;
2. gegen fremde Völker K. 46─51;
3. Geschichtlicher Anhang K. 52.
Quelle:
Handbuch der Bibelerklärung. Herausgegeben vom Calwer Verlagsverein.
Zweiter Band: Die Lehrbücher und Propheten des Alten Testaments.
Siebente, völlig umgearbeitete Auflage. Calw & Stuttgart. Verlag der Vereinsbuchhandlung, 1898. [S. 295f. – Digitalisat]
(Die nähere Inhaltsangabe folgt bei den einzelnen Abschnitten.)
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