An die Gemeinde Thyateira (Nikolaus von Brunn)

Thyateira, eine Stadt in Acolien, wo sich frühzeitig, durch die Predigten des Apostels Paulus ergriffen, eine Gemeinde gebildet hatte, ist wahrscheinlich (wenn wir den mystischen Sinn des Namens der Gemeinde und den Charakter Jesu berücksichtigen, in welchem Er vor dieselbe hintritt, und vorzüglich was Er derselben bemerkt) die abendländische Kirche vor, in und nach ihrer Reinigung durch die Reformation.

In Beziehung auf den Namen ist bemerkenswert, daß er einen Gebrauch andeutet, der diese Kirche vor allen andern auszeichnet. Hesichius sagt: Thya, Θυα seien kleine Flädchen gewesen, welche den Göttern geopfert worden. Teirein, τειρειν bedeutet „zerreiben, aufgehren“. Thyateira ist also die Esserin (oder Verzehrerin) von Opferflädchen. Welcher Kirche kann nun diese Benennung zugeeignet werden, außer der römisch-katholischen, die bei dem H. Nachtmahl in kleinen Opferflädchen vorgibt, den wirklichen Leib Jesu Christi Gott zu opfern, Ihm denselben vorweist und dann verzehrt, was die orientalischen Kirchen nicht tun, weil sie nur gewöhnliches Brot beim H. Nachtmahl, um sich im Glauben Jesu Kreuzestod zuzueignen, gebrauchen. Auch der Charakter, den unser Herr in diesem Briefe annimmt, scheint dahin zu weisen. Er nennt sich feierlich, wo Er dem Oberpriester dieser Kirche gegenübertritt, wie einst im Gerichtssaal vor dem Hohenpriester der Juden – „den Sohn Gottes, der Augen hat wie eine Feuerflamme und Füße wie Chalkolibanos – wie im Ofen glühend gemacht.“

Da steht nun der Sohn Gottes dem vorgeblichen Statthalter Gottes, der sich selbst wie ein Gott in den Tempel Gottes gesetzt (s. Dan. 11 u. 2. Thess. 2.) hat, gegenüber, als Richter von ihm und allen seinen Einrichtungen, um ihm einen Wink zu geben, daß er nicht frei handeln dürfe, sondern in allen Dingen von Ihm, dem Sohne Gottes, abhängig sei, und seine Aussprüche nie rechtfertigen könne, wenn sie nicht von seinem Gesetze gebilliget werden. Er nennt sich den, der Augen hat wie eine Feuerflamme, um in seinem Bilde lebendig darzustellen, daß es eitler Wahn sei, Ihn durch den äußerlich blendenden Glanz der Kirche und ihrer Gebräuche und den frommen Schein und die Gebets- und Gesangsübungen und gesetzlichen Kasteiungen derselben, wodurch die Welt für den Glauben gewonnen werden soll, einzunehmen, da sein Flammenbild bis in die innersten Tiefen des menschlichen Herzens hineindringt. Sein wie in einem Tiegel glühend gemachtes und rein geläutertes Chalkoliban, χαλκολιβάνῳ – das ist, wie das reinste Erz dastehende Füße – das Sinnbild der allein vor Gott gültigen und den armen Sünder rechtfertigenden Gerechtigkeit, erscheinen als ein Bild, das alle eiteln Rechtfertigungskünste, welche diese Kirche aufstellt, als eitles Machwerk der menschlichen Einbildungskraft darzutun bestimmt ist, da Er sich als unser Hoherpriester dem Vater geheiliget hat, damit wir geheiliget seien in der Wahrheit, wie wir schon oben S. 27 etc. bewiesen haben. Wie wichtig sind nicht schon alle diese Winke einer Gemeinde gegenüber, die das Wesentliche im Christentum so oft beseitiget, und hingegen auf das Blendende einen so hohen Wert setzt! Das schöne Zeugnis, das der Herr dieser Kirche nun gibt, beweist, daß Er auch aus dem übertünchten Wesen das viele Gute, das sie stiftet, wohl heraus zu finden weiß.

„Ich kenne deine Werke“, spricht Er, ─ „ich weiß zu unterscheiden, zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen ─ ich kenne auch deine Liebe, und deinen Dienst, und deinen Glauben, und deine Beharrlichkeit (Geduld), und deine Werke, die letzten, die größer sind als die ersten“.  Der Herr ehrt besonders an dieser Gemeinde, daß aus derselben zu allen Zeiten Männer hervorgingen, welchen es daran gelegen war, die Einheit im Glauben und in der Liebe zu befördern. Er ehrt es an ihr, daß der Eifer nie ganz aus ihr verschwand, wie es sich an einzelnen Gliedern derselben wahrnehmen ließ, aus Liebe zu Jesu auch Heiden zum Christenthum hinzuleiten, sie unter den größten Aufopferungen zu nützlichen Menschen zu bilden, und mit der Verbesserung ihrer Sitten, ihnen auch den Weg zur Seligkeit zu bahnen. Bei manchen ihrer Glieder ließ sich in solchen Unternehmungen eine Treue und Beharrlichkeit blicken, welche sie den ersten Blutzeugen Jesu an die Seite stellte. Um nur eines Einzigen Beispiel anzuführen; die Denk- und Handelsweise Bernhards des Abtes von Cluny beweist auffallend, daß der Glaube an Jesum und die Liebe zu Ihm, diese Kirche auch in den dunkelsten Zeiten nie Mangel hatte leiden lassen an treuen Zeugen der Wahrheit, welche verkündigten die Tugenden deß, der sie berufen hatte von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Lichte (1. Petrus 2, 9). Die Gottheit Christi zu vertheidigen, das Kreuz Jesu als den Grund des Glaubens und der Seligkeit in Ehren zu halten und Ihn als den Anfänger und Vollender des Glaubens darzustellen, war dieser Kirche sehr angelegen. Selbst die hierarchische Verbindung der abendländischen Christenheit, die so manches gegen sich hat, wurde ein gesegnetes Mittel in der Hand des Herrn, daß der Arianische und Sozinianische Unglaube seine Flügel nie so weit ausbreiten konnte, und von keinen so schädlichen Folgen war, als im Morgenland, wo er den Abfall eines großen Theils der Christen bewirkte.

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Quelle:

Blicke eines alten Knechts, der auf seinen Herrn wartet, in die Offenbarung des HErrn Jesus Christus, die Er gegeben dem Jünger, den ER lieb hatte, dem Apostel Johannes, nebst Hindeutungen auf die Kirchengeschichte, S. 62ff. – Nikolaus von Brunn, Pfarrer zu St. Martin und Helfer am Münster. Erster Theil. Basel, bei J.G. Neukirch, 1832. Buch


Offenbarung 2

Eingestellt am 5. April 2021 – Letzte Überarbeitung am Buß- und Bettag, 19. November 2025