Offenbarung Johannis 12, 1

Aus:

Erster Nachtrag zur Siegsgeschichte der Christlichen Religion

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von Johann Heinrich Jung-Stilling

(Rechtschreibung sachte auf den heutigen Stand angeglichen)

 

Das sechste Kapitel.

Einige Bemerkungen über die Weissagung vom Weibe, mit der Sonne bekleidet.

Offenb. Johannis 12, 1

Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf goldenen Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual zur Geburt.

Es ist besonders merkwürdig, daß man in der Apokalypse keine deutliche und bestimmte Weissagung von der großen Sammlung der Israeliten aus allen vier Weltteilen und ihrer allgemeinen Bekehrung zu ihrem Könige David oder Christo findet: denn wenn die Versiegelung der 12 mal 12000 unter dem sechsten Siegel diese Sammlung und Bekehrung vorstellen sollte, so müßte der ganze Inhalt des siebenten Siegels noch zukünftig sein, und von den sieben Posaunen wäre noch nicht eine erfüllt; gesetzt auch, es wäre noch eine vollständige Erfüllung der apokalyptischen Weissagung zukünftig, so ist das doch ausgemacht, daß auch schon vieles peremtorisch und schließlich erfüllt ist. Mir ist daher ein Aufschluß über diesen Gegenstand sehr angenehm, in welchem sich alle Schwierigkeiten leicht beheben lassen. Da die Apokalypse gleichsam der Brennpunkt und die Quintessenz aller Weissagungen ist, die auf den Zeitraum des Neuen Testaments und besonders auf die letzten Zeiten zielen; und da die Sammlung und Bekehrung des ganzen Israels und Juda, nämlich aller zwölf Stämme, von allen Propheten oft und vielfältig – nicht zweideutig, sondern bestimmt  – und ausdrücklich im Namen des Jehovah endlich versprochen worden [ist], so kann diese Weissagung unmöglich in der Offenbarung Johannis ausgelassen werden, sondern sie muß irgendwo  v e r s t e c k t  sein. Es ist der Mühe wert, daß wir diese Sache reiflich überlegen, und dann aufsuchen.

Ich habe in der Siegsgeschichte auf dem Wege der Accomodation, das Sonnenweib in der Mährischen Brüdergemeine gefunden, und darinnen auch Bengel zum Vorgänger gehabt; ich fand ihren ersten Ursprung bei den Paulizianern, Seite 337, u. f.

Dieser Sekte gedenkt Johann Friedrich Roos im 2ten Band seiner vortrefflichen Kirchengeschichte, Seite 319 u. f. mit vieler Schonung; indessen steht sie doch da nicht im besten Licht; ich schöpfte meine Nachrichten aus Gibbons Werk vom Verfall des Römischen Reichs, weil dieser Verfasser als Nichtchrist, und doch als unparteiischer Freund der Wahrheit, nach meiner Überzeugung richtiger erzählt, als die Kirchenväter, welche durchgehende Feinde aller Parteien waren, die nicht mit dem Kanon der Konzilien übereinstimmten; und daher manchmal bloße Lästerungen als Wahrheit ansahen und sie ihren Schriften einverleibten. Welche Gräuel hat man nicht in neuern Zeiten den Pietisten, Inspirierten, der Brüdergemeine und anderen Gesellschaften angedichtet, an welchen doch kein Wort wahr war?— ich bleibe also noch immer bei meiner Erklärung, die ich in der Siegsgeschichte vom Sonnenweib geäußert habe, nur mit dem Zusatz, daß diese Weissagung durch jene Accomodation noch bei Weitem nicht erschöpft worden ist.

Ich bin überzeugt, daß der Geist der Weissagung, bei diesem ehrwürdigen Bilde des Weibes mit der Sonnen bekleidet, die Mährische Brüderkirche im Auge habe; und daß also meine Accomodation eine wahre und richtige Anwendung sei — aber das ist mir seitdem auch klargeworden, daß noch eine eklatante, jedem in die Augen strahlende Erfüllung dieser erhabenen Weissagung zukünftig sei.

Ich bitte mir von meinen Lesern die Erlaubnis aus, meine Vorstellung von dieser Sache etwas weitläufig und ausführlich auseinander setzen zu dürfen, damit mein Vortrag desto bestimmter und überzeugender werden möge.

Ich finde jetzt eigentlich nur drei Klassen unter allen Parteien in der Christenheit:

1.) Die von Christo Abgefallenen; denen das Evangelium ein abgeschmacktes Märchen, und die christliche Religion bloßer Aberglaube ist.— Das Schicksal dieser Klasse ist entschieden.

2.) Die einen Mittelweg Suchenden, wo keiner ist; die also mit Vernunft und Philosophie accordieren [frz., übereinstimmen]; die Bibel und das Evangelium annehmen, aber beide nicht nach biblischen, sondern nach philosophischen Regeln erklären wollen; JEsum Christum über alle Maßen rühmen, erheben, und ästhetisieren, um dadurch ihre innere Überzeugung zu decken, daß Er nichts weiter als ein guter, aber bloßer Mensch sei; sie bedenken aber nicht, daß Er unmöglich ein guter Mensch sein kann, wenn Er nicht wahrer Gott ist: denn was ist der Mensch, der sich für Gott ausgiebt, und ist es nicht?—

Das ganze Erlösungswerk erklären sie allegorisch, und wenden es dahin an, daß die Befolgung der christlichen Sittenlehre von der Sünde, und von der Strafe der Sünden erlöse; sie behaupten, der Mensch habe die Kräfte, das Sittengesetz zu erfüllen, und die Gnadenwirkungen des heiligen Geistes seien weiter nichts, als der „ästhetische Geist“ des Wahren, Guten und Schönen in der christlichen Moral. So schön, so vernünftig, und so annehmlich dies System auch nun scheint, so lehrt doch die Erfahrung, daß noch nie ein Mensch dadurch gründlich gebessert worden ist — feinere Sitten, und ein gewisses ästhetisches Gefühl kann wohl bei Menschen von guter Erziehung dadurch bewirkt werden, aber bei dem gemeinen Volk haften dergleichen Sophistereien ganz und gar nicht; daher nimmt auch die Sittenlosigkeit unaufhaltbar zu — es ist schrecklich, daß man dies nicht bemerken, und wieder zur rechten Quelle umkehren will! — allein, da heißt es: man muß doch mit dem Zeitgeist / mit der Aufklärung, und mit der Literatur fortgehen — und man bedenkt nicht, daß das nur von menschlichen Wissenschaften, nicht aber von der bestimmten Bedeutung solcher Urkunden gelten kann, welche göttliche Offenbarung sind.— Eben durch solche willkürliche Erklärungen der Bibel, und Zumischung der Platonischen und Scholastischen Philosophie, haben Konzilien und Bischöfe die christliche Religion zu einem abergläubischen Heidentum gemacht; und eben die nämliche Maxime löst nun die Bande der christlichen Religion ganz auf, und führt endlich zum völligen Atheismus. Diese zweite Classe bahnt dem Abfall den Weg, und ist um so viel gefährlicher, weil das Gift unter eine angenehme Speise gemischt wird, ohne daß man’s weiß! – Gott erbarme sich seiner Christenheit, es ist schrecklich!

Und endlich

3.) Die in viele Parteien zersplitterte Gemeinde der wahren Christen — wo jede Partei viele treue Verehrer JEsu Christi, viel Salz der Erden, und wahrhaft vortreffliche Menschen enthält, die aber bei allem dem doch immer noch Vorurteile gegen jede andere Partei haben; wodurch dann allenthalben die Einigkeit des Geistes und der Fortschritt in der Heiligung gehindert wird: denn wie läßt sich da an Vervollkommnung denken, wo die beiden Bürgertugenden des Reiches Gottes, Liebe und Demut fehlen? — und wie kann man den lieben, den man tadelt, und wie kann man demütig sein, wenn man sich für besser hält als Andere? — Eben diese splitter-richterische Parteisucht unter den wahren Christen, macht die große Versuchungsstunde notwendig: — würden wir uns alle in Liebe tragen; einer den Andern, des Unterschieds der Meinungen in Nebensachen ungeachtet, brüderlich anfassen, und innig überzeugt sein, daß wir [selbst] auch irren könnten, so würde uns Alle das Band der Vollkommenheit umschlingen, und der Herr in unserer Mitte, würde uns zu schützen wissen, allein, Leider! Leider!—- dazu kommt’s nicht, bis nie erhörte Trübsal den Eigensinn und Eigendünkel ausbrennt, und dann aus den vielen Häuflein endlich eine Herde wird— Gott weiß, wie ernstlich ich bisher an dieser Vereinigung gearbeitet habe, allein es hat wenig geholfen, im Gegenteil, ich muß mich für meine gute Absicht noch selbst richten und verurteilen lassen: denn da ich zu keiner Partei gehöre und gehören will, so hält mich auch keine Partei für ganz richtig im Glauben. — Dies kümmert mich nun gar nicht, wenn nur Einigkeit des Geistes erreicht, und zu Stande gebracht würde, allein daran fehlt’s, es gelingt nicht. Ich will also meine Ahnung von der Zukunft, so wie sie in meiner Seelen liegt, meinen Lesern treulich darlegen;

So wie sich die Aufklärung und der Fortschritt in der Kultur immer mehr und mehr vermehrt, und immer „vernünftiger“ zu werden scheint, so entfernt sich die Vernunft auch immer mehr von dem wahren Sinn des Evangeliums: denn es ist unmöglich, daß sie in sich selbst die Quelle der Wahrheit sollte finden können, sondern sie muß in göttlichen Dingen auch durch das göttliche Wort mit himmlischem Licht durchstrahlt werden; dann erst kann sie von geistlichen übersinnlichen Dingen, auch geistlich und übersinnlich urteilen; hierzu kann es aber im Ganzen nicht kommen, weil die Vernunft einmal auf dem Thron sitzt, und Selbstherrscherin sein will, und sein soll.

Der Erfolg von diesem Allem kann nun kein Anderer sein, als daß sich der aufgeklärte Teil der Christenheit immer weiter vom wahren inwendigen praktischen Christentum entfernt, ungeachtet es sich ihm zu nähern scheint — und ebenso werden auch die wahren Christen in allen Parteien immer verächtlicher — nach und nach wird man sie immer unerträglicher finden, man wird sie als unverbesserliche Menschen mit Ungeduld betrachten, und sie hassen, bedrücken und verfolgen.

Sobald nun der Mensch der Sünde offenbar wird, und als ein großer Monarch erscheint, der mit heißem Eifer die Religion der Unvernunft, durch Aberglauben bei dem gemeinen Volk, und durch Unglauben bei den aufgeklärten Ständen allgemein herrschend zu machen sucht, so wird ihm die ganze Menge der Aufklärung zufallen, und über alle, die sich zum Evangelio von JEsu Christo, und zur wahren Bibelreligion bekennen, wird eine schwere Trübsal verhängt werden: denn man wird bei einer — nach ihrem Sinn — so hartnäckigen, eigensinnigen und unverbesserlichen Menschenklasse, endlich alle Geduld verlieren, und sie nicht mehr schonen, wer sich also dadurch, daß er das Bild des Tiers nicht verehrt, und sein Malzeichen nicht an Stirn und Hand nimmt, als ein wahrer und treuer Verehrer JEsu Christi auszeichnet, der wird als ehrlos, seiner bürgerlichen Freiheit, und des Rechts zu gewinnen und zu erwerben, beraubt, und gleichsam vogelfrei gemacht werden. In dieser Probe werden sehr viele „Herr, Herr“-Sager, und Splitterrichter, viele Parteimacher und große Lichter, die man für heilig hielt, nicht bestehen, und ihr schreckliches Teil im Feuersee finden; dagegen werden viele redliche, wahrheitssuchende Zweifler, viele in der Aufklärung erzogene gute Seelen, zur wahren Erkenntnis JEsu Christi kommen, wie Brande aus dem Feuer gerettet, und Teilgenossen des herrlichen Friedensreichs werden.

Jetzt ist nun auch die Reihe am verlorenen Sohn Israel: der so viele Jahrhunderte des Vates Zorn getragen, und schreckliche Schicksale erduldet hat; und hier ist der Standpunkt, in welchem sich Ezechiel befand, als er das große Knochenfeld sähe, Ezech. 37 – Dies Gesicht ist ausserordentlich merkwürdig: Der Prophet sah in einer Entzückung ein überaus großes Feld, das voller ausgedorrter Menschenknochen lag — welch ein treffendes Bild von der jüdischen Nation! — denn so vielen Witz, und so vielen Gewerbefleiß sie auch entwickelt, so haben die Juden doch gewöhnlich tote eiskalte Herzen, wenn von einem Leben aus Gott die Rede ist, daher ist es auch ein seltener Fall, daß ein bekehrter Jude Stand hält, und ein wahrer guter Christ wird. — Ja wahrlich, in diesem Sinn sind sie verdorrte Gebeine, und unter Menschen kommt es unmöglich vor, daß dieses hartnäckige, hartsinnige Volk sollte können zu Christo bekehrt werden, und doch wird’s geschehen: denn der Herr fragt den Propheten: meinest du auch wohl, daß diese Knochen wieder könnten lebendig werden? – Der Prophet antwortet: Herr, das weißt du am Besten! — Nun bekam er Befehl, Leben in diese dürren Gebeine zu weissagen; er weissagte, und siehe! sie wurden mit Adern, Fleisch, und Haut überzogen, ein belebender Wind durchwehte sie, und nun stand das ganze unzählbare Heer da, und war bereit wieder in sein Vaterland, das so lange brach gelegen hatte, zu ziehen.

Indessen wird es bei dieser Belebung, bei dieser neuen Geburt schwer hergehen: Die jüdische Nation wird eine schwere Probe auszuhalten haben; vielleicht wird sie auch das Bild des Tiers verehren, und sein Malzeichen an Stirn und Hand nehmen sollen, dies wird dann auch eine große Scheidung verursachen; viele werden es tun, und die Religion ihrer Väter verleugnen, viele werden es aber nicht tun, und diese Gemeine Israels wird sich dann an die wahren Verehrer Jesu Christi anschließen wollen, aber nun kommen die Geburtswehen dieses neuen Sonnenweibes; sie steht im Sonnenglanz, im Licht der Wahrheit, sie hat den Mond der Vernunft, und der Wandelbarkeit ihrer Schicksale unter den Füßen; ihre zwölf Stammsterne schimmern um ihr Haupt, aber Joseph gibt sich noch nicht seinen Brüdern zu erkennen, sie müssen erst tief empfinden, was sie an ihrem Bruder verschuldet haben; sie weinen, singen, sie sehnen sich nach Licht, sie schreien nach Rettung, nach ihrem Messias, aber da läßt sich nichts hören und sehen; die Angst ihres Herzens ist groß, und alles um sie her ist Nacht; jetzt erst wird die Weissagung
des Propheten Jeremia, Kap. 31. Verse 15. u. f., welche Matthäus auf den Bethlehemitischen Kindermord accomodierte, peremtorisch [ein für alle Mal] erfüllt; jetzt beweint Rahel ihre Kinder, aber ihre Traurigkeit soll nun in Freude verwandelt werden. Dieser Jammer wird nun durch die Geburtswehen des Sonnenweibes vorgestellt; sie ängstet sich zur Geburt. Jetzt offenbart sich ihr auf einmal und ganz unerwartet der Herr: Joseph gibt sich seinen Brüdern zu erkennen — Ich bin Jesus, euer Bruder! —
Mein Herr und mein Gott! welche Empfindungen werden da entstehen – ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen; denn ich mußte diesen Weg der Leiden gehen, um Euch verlorne Schafe vom Hause Israel wieder finden zu können, wie nun jetzt wirklich geschieht.— Kommt nun her in die Arme eueres Erbarmers.