Mein Weg kommt von der Wiege (Lange, Deutsches Kirchenliederbuch)

1) Mein Weg kommt von der Wiege
und geht der Heimat zu,
durch schwere, heil’ge Kriege
zu großer Friedensruh;
er führet mich zum Lichte
durch manches dunkle Tor,
durch strafende Gerichte
zur Ehrenkron‘ empor.

2) Es ist ein kühner Bogen,
den Gottes Hand erbaut,
von dem man in die Wogen
des Abgrunds niederschaut;
er windet sich durch Klüfte,
schwebt über Donnerdroh’n;
versinkt im Grau’n der Grüfte,
und glänzt vor Gottes Thron.

3) Hier steh ich im Gedränge
von Menschennot und Wahn,
mich stößt und zieht die Menge,
Gott macht mir freie Bahn!
Durch Schluchten schlauer Schlangen
zieh ich, von ihm bedeckt:
Wie darf dem Pilger bangen,
wenn er die Drachen schreckt?

4) Such ich mit allem Denken
mir einen eig’nen Pfad,
er weiß mich doch zu lenken
nach seinem weisen Rat.
Er kreuzt mir meine Wege,
löscht meine Lichter aus,
und führt mich seine Stege
ins hohe Vaterhaus.

5) Wohl steh ich oft und weine
wie ein verirrtes Kind,
wann ihm im fernen Haine
der Tag, der Mut zerrinnt;
doch sucht er selbst im Zagen
mich heim mit treuer Hut,
so sanft mich heim zu tragen,
wie keine Mutter tut.

6) Ein Weg, den Herrn zu preisen,
das ist der Weg des Herrn,
gewölbt aus Wunderkreisen,
erhellt von Stern zu Stern.
Am Höllentor gebrochen
ist mancher Meilenstein,
und Alpen sind durchstochen,
die Bahn mir zu befrei’n.

7) Der große Strom der Zeiten
hat um den Weg gespült;
ein Sturm aus allen Weiten
hat an dem Grund gewühlt;
die Hölle hat gewütet
an meiner Felsenbahn:
doch sie, von Gott behütet,
steigt herrlich himmelan.

8) Noch kann ich meine Bahnen
von gestern nicht verstehn,
ich kann den Pfad nicht ahnen,
den ich soll morgen gehn;
mir fallen meine Lose
als Rätsel tiefer Art,
doch wird im Vaterschoße
die Lösung aufbewahrt.

9) Mein Aug wird einst umschlossen
mit einem Todesflor,
und selige Genossen
geleiten mich empor;
dort auf den ew’gen Höhen
befrei’n sie mein Gesicht,
den Weg des Herrn zu sehen,
enthüllt im Sonnenlicht.

10) Dann steh ich da und blicke
zurück in’s tiefe Tal:
die dunkelsten Geschicke,
sie steh’n im hellsten Strahl,
die schroffsten Felsen blitzen
als edelstes Gestein;
die rauh’sten Dornenspitzen:
sie sind der schönste Hain.

11) Nun seh ich jede Wendung
und Windung meiner Bahn,
geleitet zur Vollendung,
mit tiefem Staunen an.
Nun wird mir Gottes Walten
in allen Stunden klar;
vor jeder könnt ich falten
die Hände tausend Jahr.

12) Nun fühl‘ ich, daß zum Danken
mein Herz mir ewig glüht,
weil ewig die Gedanken
ein Gnadenmeer umzieht.
Mein Weg schlingt sich zum Kreise,
worin ich selig steh,
und meinen Führer preise,
und seine Liebe seh‘.

Liedtext: Johann Peter Lange (1802-1884)

Quelle: Johann Peter Lange: Deutsches Kirchenliederbuch, 1843, Lied 545.
[Digitalisat des Werkes bei Hathi Trust Digital Library – Public Domain, Google-digitized]

Johann Peter Lange (* 10. April 1802 auf Bies in der Gemarkung Sonnborn bei Elberfeld (heute Wuppertal); † 8. Juli 1884 in Bonn) war deutscher reformierter Theologe.

Weblinks und Verweise

Johann Peter Lange bei Wikipedia (DE)

Liedeintrag bei Christ My Song


Eingestellt am 27. April 2022 – Letzte Überarbeitung am 19. August 2023