Sprüche 8 – Von der wesentlichen Weisheit

Ich wandle auf dem rechten Wege, auf der Straße des Rechts, daß ich wohl versorge [berate], die mich lieben, und ihre Schätze vollmache. (Spr. 8, 20.21)

Predigt von Hermann Friedrich Kohlbrügge

Meine Lieben! Wenn wir uns auf den Weg begeben vor die Stadt hinaus, oder wieder in die Stadt zurückkehren, durch die Straßen und über die Märkte gehen, bei den einzelnen Häusern vorüberkommen, und auf uns selbst und unsere Mitmenschen, auf unsere und ihre Gänge, Lebensgeschichte, Verhältnisse und was einen Jeden treibt und Jedem begegnet, gute Acht geben, so müssen wir uns billig über ein Ding vor Allem verwundern. Ich meine, daß wir uns verwundern müssen über die unermeßliche Liebe, Geduld und Langmut Dessen, der, nachdem er in unserer Mitte gewesen, gekreuzigt wurde und starb für unsere Sünden, und der nach seiner Auferstehung sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in den Himmeln, bis auf heute nicht aufhört, einen jeglichen Menschen zu erleuchten, daß er des wohl inne werde, was Gerechtigkeit, was Ungerechtigkeit, was Wahrheit, was Lüge ist, was zum Verderben führt, und worin allein wahre Ruhe und alles wesentliche Heil ist. Denn nicht ist unser Aller Herr, Jesus Christus, müßig im Himmel, er regiert auch nicht allein dort die Engel und hier die Wiedergeborenen, sondern, wenn auch nicht mit leiblichen Ohren vernehmbar, verherrlicht und rechtfertigt er sich doch in Aller Gewissen und läßt in den Ohren der Geister der Menschen laut genug die Posaune seines Evangelii erschallen; so daß Niemand sagen kann: „Wir haben die Stimme seines Wortes nicht gehört“.

Wenn unser Herz nicht von Hause aus steinern wäre, so müßte es vor Traurigkeit nach Gott zerschmelzen, wo die Weisheit ruft, wo sie so kläglich schreit, wie wir es vernehmen in den sechs ersten Versen des achten Kapitels der Sprüche Salomo’s.

„Ach ja! sie hat gerufen, sie hat geschrieen auch zu mir“, dies wird ein Jeglicher in seinem Herzen und Gewissen bekennen müssen, wenn die noch so über ihn hereinbricht, daß er Gottes Hand fühlt; wenn er auf dem Siechbette darniedergeworfen liegt und den gescheuten Tod vor Augen hat.

Damit aber noch immerdar welche errettet werden und hineinkommen, bevor die Türe geschlossen wird und man draußen bleiben muß in ewiger Finsternis, deshalb hört die Weisheit nicht auf zu rufen und zu schreien. Sie kommt mit dem Wort, das wie ein Hammer ist, der die Felsen zerschlägt (Jeremia 23, 29), und kommt so auch heute zu uns, und sagt es Jedermann an: Bei dir ist es nicht und in der ganzen Welt ist es nicht, was Wesen hat, was dich befriedigen und dich erfüllen kann; Ich bin es allein, der dir Ruhe gibt für deine Seele, der allein in allen deinen Ruten [Übeln] hilft.

Wer Ohren hat um zu hören, der höre, was die Weisheit ruft und schreit. Sie schafft alles Zutrauen zu sich bei denen, die ihr nicht vertrauen. Ihr höret, was gemein, was irdisch und teuflisch ist; ihr lernet, was lauter Unrecht ist; ihr lasset euch täuschen durch Wahn und Lügenlehre, durch „hier ein wenig, dort ein Wenig“, so daß ihr von der Sünde nicht loskommt, und stets betrogen auskommt. „Höret, denn ich will reden, was fürstlich ist; und lehren, was recht ist, – alle Reden meines Mundes sind gerecht, es ist nichts Falsches darinnen.“ (Sprüche 8, Verse 6-8.) „Wer diese meine Lehre tut, der wird erfahren, daß sie von Gott ist“ (Johannes 7, 17).

So lehrt uns die Weisheit, daß man ihr trauen kann. Sie hält uns die Allgenugsamkeit vor, die wir in ihr finden mögen (Verse 10-11); – die Kenntnis, die sie hat von dem rechten Wege, und ihr Wohlwollen, uns diesen Weg anzuzeigen und das für uns darzustellen, worauf kein Mensch gekommen wäre. In Vers 12 bedeutet darum Witz [Klugheit], daß man weiß durchzukommen und allen Stricken, die uns unser eigen Herz legt, wie z. B. der Hoffart und Hochmut, zu entkommen und vor allem Uebel und vor allen zum Verderben führenden Nebenwegen der losen Lehre bewahrt zu bleiben. Die Weisheit sagt uns, daß, indem sie Rat gibt, sie auch den Weg, die Mittel, die Umstände, die Auskunft gibt, ja Alles in ihrer Gewalt und Macht hat, so daß ihr Rat zu einem seligen Ende und zu ewiger Herrlichkeit bringt (Verse 14-16). Sie gelobt denen, die sie lieben, unveränderliche Liebe und Treue und versichert es ihnen, daß sie ihr nie zu früh kommen können (V. 17). Vers 18 sagt sie uns, daß nur bei ihr auch die Verheißung dieses Lebens ganz königlich und zwar mit Gerechtigkeit zu finden ist. Ja alle irdischen Schätze können nicht aufwiegen das, was sie erteilt nach Vers 19; und wie sie im Anfang des Kapitels beteuert hat, daß bei ihr nur die Wahrheit ist, so ladet sie uns Vers 20, um mit ihr zu wandeln auf ihrem Wege, und sagt dann, welchen Nutzen und Frucht Die davon tragen, die mit ihr wandeln, indem sie Vers 21 uns versichert: „daß ich wohl berate, die mich lieben, und ihre Schätze voll mache.“

Nach Anleitung der Worte des 21. Verses reden wir zu dieser Stunde von dem großen Gut, welches wir, wenn wir die Weisheit hören und mit ihr wandeln, in, bei und durch die Weisheit haben.

Vor Euch, Gemeinde! brauche ich es nicht zu beweisen, daß wir den Namen Weisheit hier nicht dichterisch oder als eine Gabe nehmen dürfen. Ihr wisset es alle, daß unser Herr Jesus Christus hier redet, und daß er die Weisheit heißt uns gegenüber, die nur Torheit sind, wie auch der Apostel Paulus 1. Kor. 2, Verse 24 u. 30 Christum die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes nennt, und von diesem Christo bezeugt, daß er uns von Gott zur Weisheit gemacht ist.

Unsere Textworte lauten nach dem Hebräischen: „Daß ich den mich Liebenden das was ist zu erben gebe und ihre Schatzkammern voll mache.“

Wir stellen folgende Fragen auf:

  1. Welche sind die Kennzeichen derjenigen, welche die Weisheit lieben?
  2. Was bekommen sie von der Weisheit, und wie bekommen sie es?
  3. Was versteht die Weisheit unter Schatzkammern der sie Liebenden und wie geht das zu, daß sie diese Kammern voll macht?

I.

Lieben ist das völlige Hingestrecktsein mit Herz, Seele, Gemüt und allen Kräften zu dem hin, was uns gut vorkommt, um darin aufzugehen, und so befreit zu sein von dem, was uns nicht gut ist, das Lieben will deshalb Verneigung.

Wie der Mensch geschaffen ist im Bilde und nach der Gleichheit Gottes, so konnte nur der vollselige Gott es sein, den er liebte von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit allen Kräften.

Durch Anstiftung des Teufels und mutwilligen Ungehorsam ist es ganz anders geworden mit dem Menschen. Er liebt Gott, sein höchstes Gut, nicht mehr, er haßt ihn; und so haßt er sich selbst, und haßt seinen Nächsten.

Daß er Gott haßt, beweist seine Liebe zu der Sünde, und wie er alle Torheit der ewigen Weisheit vorzieht; daß er sich selbst haßt, beweist seine Eigenliebe, seine Liebe zur Lust, trotz allem weisen Gebot; und daß er seinen Nächsten haßt, beweist sein Streben, seinen Nächsten dieser Selbstliebe und der Lust aufzuopfern. Solches Hasses bedient sich nun der Feind des Menschen, einen Jeglichen für Zeit und Ewigkeit zu verderben.

Gott der Herr setzt dagegen sein Gesetz: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und aus allen Kräften, und deinen Nächsten als dich selbst.“ Dazu aber kommt kein Mensch, sondern er haßt um so mehr, je mehr er dieses Gebot gegen sich findet.

Da ist es nun das Werk ewiger freier Gnade, daß Gott, der unsrer Keines bedarf, aus eitel Erbarmen der Erste ist, der den Menschen aufsucht und zu sich zieht, und es ihm in aller Geduld beizubringen weiß, daß er alle Ursache hat, Gott zu lieben als sein höchstes Gut, und die Sünde zu hassen als das höchste Uebel und Unrecht.

Dies nun bringt er dem Menschen bei durch die ewige Weisheit und seinen Geist, und wirkt in ihm durch diesen Geist, daß er anfange die Weisheit zu lieben und die Torheit zu hassen. Da hebt dann der Mensch an, die Weisheit zu lieben, als die ihn von seiner Torheit erlöst; diese Weisheit muß er gefunden haben, mit ihr Ein Ding geworden sein, und mehr und mehr in ihr erfunden werden.

Betrachten wir, wie dieses zugeht. Die, welche die ewige Weisheit, das ist den Herrn Christum lieben, kennen eine Zeit, wo ihre Anfechtung um des Himmelreiches willen groß wurde, in allen ihren schweren Werken und ihrem Gottesdienst, wobei sie den Leib kasteieten. Desgleichen konnten sie von allen Gelehrten und Büchern, die die Ruhe der Seele versprechen, keinen Trost noch Sicherheit der Liebe und Gnade Gottes finden oder überkommen. So wurden sie denn an Seele und Leib krank und schwach, und es ging ihnen wie dem armen Weibe im Evangelio, das all sein Gut bei den Aerzten immerdar verlor; da das Weib aber von Christo hörete, und zu ihm kam, da wurde ihm durch denselbigen geholfen.

„Da wir in großer Angst und Sorge der Gnaden Gottes standen, und in den vielen Werken und Uebung nie keine Ruhe finden mochten, da erbarmte sich Gott unser, daß er uns den Herrn Jesum Christum so lieblich vorhielt, daß wir aus des Erdreichs Tiefen, ja aus der grimmigen Hölle gezogen wurden, und seitdem hat uns Gott so bearbeitet, daß wir trotz aller Anfechtung zu Jesum Christum hingezogen wurden, bis wir ihn, die ewige Weisheit, ergriffen, und in ihm erfunden waren.“

Das ist das Bekenntnis aller, die Christum lieben, als der da ihre Weisheit zur Seligkeit ist. Solche wurden von ihrer eigenen Torheit, Blindheit und Unwissenheit heilbringend überzeugt, daß sie bekannten und bekennen: „Ich war und bin der Allernärrischste“ (Sprüche 30, V. 2.): O, wie unwissend waren sie, als sie Gottes Wort, als sie Christum nicht kannten, – wie blind, daß sie das Gesetz Gottes nicht auf sich selbst anwandten, oder meinten, sie könnten und wollten es halten und hielten es, während sie doch mit ihren Sünden Christum kreuzigten, – wie töricht, daß sie der Sünde, welche Gott erzürnt und Leib und Seele zerrüttet, dienten, – und wie müssen sie sich auch annoch (heute noch) ihrer Torheit und Unwissenheit wegen vor Gott verklagen! Aber sie lagen vor dem Abgrunde und liegen noch manchmal vor allerlei Abgründen, wußten und wissen den Weg nicht, worauf Er wandelt, – sie mußten ihn kennen, und wann haben wir das ausgelernt: Ihn zu kennen und die Kraft seiner Auferstehung?

Die Christum, die ewige Weisheit, lieben, können außer seiner Gemeinschaft nicht leben, darum suchten und suchen sie ihn fortwährend ihres großen Jammers und Elendes wegen, wie es heißt im 42. Psalm: „Wie ein Hirsch schreiet nach frischen Wassern, so schreiet meine Seele, Gott, zu dir“; – und Psalm 63, 2: „Gott, du bist mein Gott, frühe wache ich zu dir, es dürstet meine Seele nach dir, mein Fleisch verlanget nach dir, in einem trocknen und dürren Lande, da kein Wasser ist“.

Die Christum lieben, nehmen ihn dafür an, wozu er ihnen von Gott gemacht ist, zu ihrer Weisheit; sie nehmen sein Zeugnis an, das Zeugnis, welches Gott von seinem Sohne zeugt; sie umfassen ihn durch wahren Glauben, wollen keinen Andern; sie sagen Ja und Amen auf sein Wort und Verheißung, sie geben ihm Hand und Herz, gehen seinen Bund ein, – wie Paulus bezeugt, daß er nichts wissen wollte als „Jesum Christum, den Gekreuzigten“.

Alle, die Christum lieben, lieben ihn, weil die Liebe Gottes ausgegossen ist in ihre Herzen durch den ihnen gegebenen heiligen Geist. Und wo diese Liebe ausgegossen ist, da wird er gesucht, und wo er gesucht wird, da laßt er sich selbst wohl finden, wie er gesagt: „Die mich frühe suchen, finden mich“. Eigentlich sucht er selbst und macht er uns suchend, er findet uns und läßt sich von uns finden. –

Die Christum lieben, in denen ist kein Stillschweigen von ihm, sie zeugen von ihrer eigenen Torheit und von seiner Weisheit; sie können nicht aufhören, ihn zu betrachten in allen Stücken, worin und wozu er ihnen von Gott gegeben ist; sie zeugen, singen und sagen von den Herrlichkeiten, die sie in ihm sehen und womit sie von ihm beschenkt werden. Das ist ihnen nach dem Herzen geredet, was die Braut von ihm zeugt Psalm 45: „Du bist der Schönste der Menschenkinder, Gnade ist ausgegossen in deine Lippen“ – und Hohel. Kap. 5, 10: „Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden“. Das Herz hüpft ihnen im Leibe, wenn sie Petrum sagen hören: „Welchen ihr nicht gesehen und doch lieb habt, und nun an ihn glaubt, wiewohl ihr ihn nicht seht;“ – und nochmals „Euch, die ihr glaubt, ist er köstlich“ (1. Petri 1, 8; Kap. 2, 7).

Die Christum lieben, trauen ihrer eignen Weisheit nicht, sie erkennen sich in allen Stücken, bei allem ihrem Tun und Lassen von Ihm abhängig; sie scheuen sich vor Ihm und tun den Willen des sie Liebenden freiwillig, ganz von Herzen, ohne knechtische Furcht. Sie verstehen die apostolischen Worte: „Nach dem, der euch berufen hat, und heilig ist, seid auch ihr heilig in allem eurem Wandel“ (1. Petri 1, 15). „Christus hat uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen“ (1. Petri 2, 21). „Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und ist kein Aergernis in ihm“ (1. Joh. 2, 10). „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist“ (1. Joh. 2, 15).

Wer Christum lieb hat, sucht sein Angesicht und sucht es ohne Aufhören im Verborgenen; und wie die stete Geneigtheit des Herzens zu ihm ist, so ist sie auch gerichtet auf seine Ehre, sein Königreich, und auf seine Kinder. So sind sie beschaffen, die die Weisheit lieben. Diese Beschaffenheit ist aber nicht ihre Tugend oder Wert. Die Sache liegt vielmehr so: sie wollen es vor Gott und Menschen wohl von sich wissen, daß sie arm, blind, töricht, unweise in dieser Welt sind, und nichts wissen, können noch vermögen; sie wollen es wohl bekennen, daß alle ihre Torheiten ihnen solche Not machen, daß es heißt: Aus tiefer Not schrei‘ ich zu dir; sie bekennen es, daß sie ihre Torheiten von Herzen bereuen. Wo es nun also mit ihnen in Folge ihrer Torheit ein Garaus ist, da hören sie die Stimme der Weisheit und folgen ihr der Not wegen, bis sie der Weisheit auf die Spur kommen. Da gibt es dann ein Ringen, ein „Ich laß dich nicht, du segnest mich denn, du lehrest mich denn“; – und da zeigt ihnen die Weisheit den ganzen Weg und ihr ewiges Zurechtkommen in sich, sie rückt ihnen ihre Torheiten nicht vor, sondern bringt sie selbst auf den Weg und begleitet sie und bleibt bei ihnen, und redet mit ihnen gute Worte, tröstliche Worte. Da wallt das Herz über, – seine Liebe hat es erfüllt, man kann von ihm nicht lassen, man streckt sich zu ihm aus gestern, heute und morgen, – das macht seine Liebe, daß man lieben muß.

II.

Vernehmen wir, was die Liebhaber der Weisheit von der Weisheit bekommen, und wie sie es bekommen.

Das was ist, nennt es die Weisheit; mit andern Worten; was Wesen hat, was wesentlich ist; was da ist, was es ist; was nicht verfehlt ist, sondern gelingt; was wahrhaftig ist; was in sich einen wesentlichen Wert hat und zum Zweck führt; was die Tat des Geredeten in sich hat; was wesentlich Heil, Frieden, Ruhe und Freude schafft; was allein und ausschließlich vollkommen, um und um vollkommen ist; was allein glücklich macht; sicher und gewiß ist; was nicht täuscht, indem man darauf hofft und vertraut; was Verstand hat und wesentlichen Genuß bietet.

Was ist das, o Mensch! Ist das bei dir oder in dir zu finden? Bietet die ganze Welt so etwas? O, alles Erschaffene ruft, schreit: Bei mir ist es nicht! Steckt das in irdischen Reichtümern, in Fleisches Genuß, in Ehre bei Menschen? Findet man es in der Lust des Fleisches, in allem Genuß, den dieses Leben gesetzlich oder ungesetzlich darreicht? Was jagt der Mensch allerlei sinnlichem Genuß nach und nennt das Erholung? Was erstrebt der Mensch, Dinge zu bekommen, die nicht sind? Nicht sind? Nein, bei dem, was die Weisheit giebt, kann man von allen Dingen, welchen Menschen nachjagen, von allen sichtbaren Dingen und ihrer Herrlichkeit sagen: sie sind nicht. Da kann man vor allem von der Sünde sagen: sie ist nicht; was sie bietet, bietet sie nicht; was sie verspricht, ist nicht. Es ist alles Eitelkeit der Eitelkeiten, was Junge und Alte gewöhnlich haben wollen und haben sollen von allen Dingen, die unter dem Monde sind. Der Mensch muß aber etwas haben, was wesentlich ist; und gibst du ihm die ganze Welt, so will er doch noch mehr haben und bleibt unbefriedigt. Die Weisheit allein gibt Weisheit, nur sie kann Weisheit geben. Hören wir was Hiob sagt, (Kap. 28, 12: „Wo will man aber Weisheit finden? und wo ist die Stätte des Verstandes? Niemand weiß, wo sie liegt, und wird nicht gefunden im Lande der Lebendigen. Der Abgrund spricht: Sie ist in mir nicht. Die Verdammnis und der Tod sprechen: Wir haben mit unsern Ohren ihr Gerücht gehört.“

Da haben wir es, was wesentlich ist. Die in der Hölle liegen, zähnklappen, weil sie es verworfen haben; und die unbekehrt sterben, empfinden es, wem sie nachgejagt haben. Habe du die Verdammnis in deinem Innern empfunden, den Zorn Gottes deiner Sünden wegen, – habe du den ewigen Tod vor Augen gehabt, daß es dir nicht anders zu Mute war, als du müßtest zur Hölle sinken, – so hast du es erfahren: „Gott weiß den Weg dazu und kennt ihre Stätte“. – „Da er dem Regen ein Ziel machte, und dem Blitz und Donner seinen Weg, da sähe er sie, und er zählte sie, bereitete sie, und erfand sie. Und sprach zu dem Menschen: Siehe die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und meiden das Böse, das ist Verstand“.

Das ist also das Wesentliche, was da wirklich ist, was es ist: Gott selbst stellt sich von Anfang an zum Gut des Sünders dar. – Was wesentlich ist, das gibt die Weisheit, sie bringt uns wieder zu Gott, sie gibt uns Gott wieder, daß er unser höchstes Gut wird. Was wesentlich ist, ist Gnade, die ewige Gnade Gottes, die durch die Weisheit über uns aufgeht und uns samt allen unsern Sünden bedeckt. Wesentliches Glück, das wahrhaft Seiende, ist die Seligkeit Gottes, sind alle die geistlichen Güter und Wohltaten für dieses wie für jenes Leben, womit Gott die Seinen, die verloren sind in sich selbst, überschüttet. Was wesentlich Frieden und Ruhe gibt, ist Vergebung der Sünden, das geschenkte Anrecht auf das ewige Leben. Was wesentlich Kraft ist, ist Glaube, Liebe, Hoffnung, wahrhaftige Umkehr des Menschen zu seinem Gott hin. Es ist wahre Herzensveränderung, ist die Salbung und Versiegelung des Heiligen Geistes, Freude, Friede, Gerechtigkeit, wahre Ruhe in und durch diesen Geist. Was echtes Gut ist, sind alle Wohltaten Jesu Christi uns erworben; echtes Gut ist Er selbst, Er, die ewige Weisheit, in aller seiner Fülle. Wer jedoch kann, das was wesentlich ist, wer kann alle die Güter des Heils herzählen, welche die Weisheit schenkt und mitteilt? O, ist dies doch ein ganzes, himmlisches Königreich! und der wahre Besitz dieser vergänglichen Erde obendrein! Gegen dieses, was Wesen hat, ist alles Andere Schein, ein Nichtsein. Dieses, was Wesen hat, sind die Gnaden Davids, die gewiß sind; dieses, was Bestand hat, ist alles ein wahrhaftiges Etwas, ein vollkommenes, fleckenloses Besitztum, ein ewiges Gut, das nie von Einem genommen, wird. –

Und wie gibt die Weisheit es? Sie gibt es zu erben. So ist es denen, die die Weisheit lieben, durch letzte Willensverfügung zugesichert; denn es stirbt ja die Weisheit an einem Kreuzholze, und wird vor Himmel, Hölle und Erde zur Torheit. Aber aus dem Grabe geht sie als Weisheit wieder hervor, und bringt, was ein wesentliches Gut ist – eine ewige Gerechtigkeit, eine ewige Seligkeit mit sich und setzt sich als Sonne der Gerechtigkeit an den Himmel ewiger Gnade; – so ist das Testament fest im Tode und wird von der verherrlichten Weisheit wohl aufbewahrt für Alle, die die Erscheinung Jesu Christi lieben. – Das ist das erste Gut, das die Weisheit gibt; es folgt das zweite.

III.

Ich will ihre Schatzkammern vollmachen. Schätze, übersetzt Luther, es heißt aber zunächst Schatzkammern. Ihre Schatzkammern, die Schatzkammern derer, die mich lieben. – Nun das ist das offene Herz; das sind die Nieren und die Eingeweide Aller, die es mit Paulo halten, wenn er schreibt Ephes. 3, 19: „Christum lieben ist besser, denn alles Wissen, auf daß ihr erfüllet seid mit allerlei Fülle Gottes“. Zu den Schatzkammern gehört die Heilsbegierde, das Herzensverlangen nach Gott, nach seiner Gnade, nach allem, was zum Leben, zur Gottseligkeit dient. Diese Begierde, dieses Verlangen ist wie der leere Raum einer Schatzkammer. Denn nicht gleicht sie einer Kammer, worin der Schatz schon ist, sondern einer Kammer, welche dazu erbaut und gemacht ist, voll gemacht zu werden; es ist also das Verlangen und die Begierde wie eine Kammer, die für einen Schatz offen steht. – „Er wendet sich zu dem Gebet dessen, der ganz entblößt ist, und verachtet ihr Gebet nicht“ (Ps. 102, 18). „Den Armen wird er gut sein, den Notdürftigen wird er helfen“ (Ps. 72, 13). Diese wird er so voll machen, bis die Kammern nicht mehr fassen können, und es wohl heißt: Herr Jesu höre auf! – Er wird die Kammern so voll machen, daß sie den einen Vorrat vor, den andern nach, hergeben, so daß es zugeht, wie geschrieben steht Sach. 9, 15: „daß sie trinken und rumoren wie vom Wein, und voll werden wie das Becken, und wie die Ecken des Altars“. Und wie Paulus schreibt: „Erfüllt mit Früchten der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum geschehen, zur Ehre und Lobe Gottes“ (Phil. 1, 11). Und wie Petrus bezeugt 2. Petri 1, 8: „Wo solches reichlich bei euch ist, wird es euch nicht faul, noch unfruchtbar sein lassen, in der Erkenntniß Jesu Christi unsers Herrn“.

Daß ich es wiederhole: die Schatzkammern derer, die die ewige Weisheit lieben, sind wie die leeren Krüge der verschuldeten Wittwe eines der Prophetenkinder, – das Krüglein Oel dagegen, das sie noch hatte, war wie die Weisheit. Nur Schatzkammern herbei, lauter leere Krüge, die voll werden sollen, auf daß die Schuld gedeckt sei; je mehr leere Krüge, je lieber; – das eine volle Oelkrüglein macht sie alle voll – und nur wenn nicht mehr leere Krüge aufzutreiben sind, steht das Oel still. – Gleichwie das Oel im Krug, so auch das Mehl im Cad; es hörte nicht auf Mehl mitzuteilen und lange, lange den hungrigen Magen der Witwe, ihres Hauses und des Propheten zu füllen. – So macht Christus die Schatzkammern der ihn Liebenden voll, voll für dieses Leben, voll für eine selige Ewigkeit.

O, der Gnade dieser Weisheit, zu sich zu laden alle, die ihren Hunger und Kummer der Seelen sonst nicht stillen können, die sich so leer, ach so leer im Innern finden und möchten doch erfüllet sein mit allerlei Fülle Gottes! „Warum wäget ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und die Arbeit eurer Seelen für das, was nicht sättigen kann? – Höret mir zu – ich will euch geben die Gnaden Davids, die gewiß sind“ (Jes. 55, 2.3); das lautet ganz wie hier: Ich will ihre Schatzkammern voll machen; und wie Hosea 14, 9: „Ephraims Frucht ist an mir gefunden“. So hat denn Gottes Brünnlein des Wassers die Fülle, so erquicken Bächlein die Stadt Gottes, – so rauscht der Strom des Wassers des Lebens klar wie ein Krystall von dem Stuhl Gottes und des Lammes, und man geht hinein, bis man vor Gnadentiefen nicht mehr gründen kann (Hesekiel 47, 1-5).

O ihr Toren alle, die ihr sucht und erstrebt, was nicht wesentlich ist, und doch darnach jaget, als hinge das Leben daran, hättet ihr etwas gesehen von der Herrlichkeit dessen, das Wesen hat! Wolltet ihr den Eindruck des Hohlen und Leeren, den euch alles, was nicht ist, zuletzt doch macht, nur ehrlich euch eingestehen, wie würdet ihr in euch schlagen und eure Torheit verabscheuen. Bedenket, was die Weisheit spricht, nun es noch Zeit ist; wo nicht, so vernehmt, was ihr sonst zu hören bekommen werdet nach Kap. 1, 24-28.

O ihr, die ihr das Angesicht bedecket und aufschreit: Wehe mir Toren, daß ich so töricht gewesen Gottes Gebot zu verwerfen, das Rufen und Schreien der Weisheit nicht zu beachten! – annoch ist es Zeit – kommet zur ewigen Weisheit, so wie ihr seid, sie weiß Rat gegen eure Verlorenheit.

O ihr, meine Lieben alle, die ihr mich höret! bedenket es, daß das Wesen der Welt vergeht; wachet und betet, daß ihr bekommt und behaltet, was ein bleibendes Gut ist, und bedenket, aus welchem Stande ihr gefallen seid, und tuet Buße, ihr, die ihr euch berücken lasset von dem, was nur einen sichtbaren Halt hat.

Und ihr, die ihr euch gequält fühlt von dem, was nicht ist, denen es eine Todesqual ist, worunter ihr aufseufzet um Erbarmen, denen es auch eine Todesqual ist, daß ihr euch so leer fühlet, – wisset, daß ihr das Alles nicht als eine Todesqual empfinden und anerkennen würdet, wenn ihr die ewige Weisheit nicht liebtet; o glaubet, glaubet lediglich, umfasset die ewige Weisheit und ringet mit, bis sie es auch zu euch sage:

„Ich gebe euch zu erben was ist, und mache eure Schatzkammern voll“.

Amen!

Gehalten am 15. September 1861.


Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Siehe auch:

Licht und Recht. Schriften von und über Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803-1875)

Eingestellt am 29. August 2022 – Letzte Überarbeitung am 17. November 2023