Römer 11, 32

Gott hat alle beschlossen unter den Ungehorsam [Luther übersetzt: Unglauben], auf daß er sich aller erbarme. (Römer 11, 32)

Des Menschen Elend und Gottes Erbarmen – Erste Rede

Der, welcher diesen einzigen Vers der Bibel recht versteht, hat den Schlüssel zu der ganzen Bibel.

Die Lehre der Bibel hat zwei Hauptartikel: des Menschen Elend und Gottes Erbarmen; mein Text enthält beide und stellt sie einander gegenüber. „Gott hat sie Alle beschlossen unter den Ungehorsam“ – das ist des Menschen Elend; „auf daß Er sich Aller erbarme“ – das ist Gottes Erbarmen. Diese beiden Sätze gedenke ich in zwei Reden zu entwickeln. Heute will ich euch das Elend des Menschen und am nächsten Sonntage das Heilmittel dieses Elends in der Barmherzigkeit Gottes zeigen. Der Text meiner ersten Rede ist die erste Hälfte des Gesamttextes: „Gott hat sie Alle unter den Ungehorsam beschlossen“. Diese Worte bedürfen einiger Erläuterungen. Ich verbinde sie zuerst mit dem Schluß des Kapitels, in welchem der Apostel das Menschengeschlecht in zwei Völker teilt, in Juden und Heiden, und da ist nun ihr vollständiger Gedanke der: „Gott hat sie Alle, sowohl Juden als Heiden, unter den Ungehorsam beschlossen“.

Ihr müßt nicht glauben, der Ausspruch des Apostels dürfe nur auf seine Zeitgenossen unter den Juden und Heiden bezogen werden: er umfaßt alle Menschen aller Zeiten. Das setzt eine andere Stelle, wo er dasselbe Urteil fällt, außer Zweifel; denn hier sagt er von allen Menschen: „Die Schrift hat Alles beschlossen unter die Sünde“ (Gal. 3, 22). Wir können deshalb die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden bei Seite setzen, sie gehört nicht zu unserem Thema, wir betrachten nur die allgemeine Idee des Textes:

„Gott hat alle Menschen unter den Ungehorsam beschlossen.“

Das Wort „Ungehorsam“ kann durch das gleichbedeutende Wort „Sünde“ ersetzt werden; dies Wort wird öfter in der Schrift gebraucht, und Paulus bedient sich desselben in der gleichlautenden Stelle des Galaterbriefes, die ich eben erwähnt habe. Was den Ausdruck anlangt: „Gott hat die Menschen unter die Sünde beschlossen“, so würde es ebenso überflüssig wie leicht sein, durch die ganze Schrift zu beweisen, daß er nicht bedeutet, Gott habe die Menschen zur Sünde gezwungen, sondern: Er habe erklärt, daß sie Sünder seien. Kurz, der Mensch, von dem hier die Rede ist, ist der natürliche Mensch, d. h. der Mensch, so wie er von Natur ist und so lange er noch keine Umwandlung von Grund aus, welche die Schrift „Bekehrung“ nennt, erfahren hat.

Auf diese Weise erläutert, ist also die Lehre meines Textes die: „Gott hat erklärt, daß jeder Mensch in seinem natürlichen Zustande ein Sünder ist“. Davon wünsche ich euch heute zu überzeugen.

Sollte es euch dünken, als ob dieser Wunsch nicht mit der christlichen Liebe übereinstimme; sollte sich Jemand darüber beklagen, daß ich unter so vielen Betrachtungen, die ich auf diese Kanzel hätte bringen können, gerade eine so harte gewählt habe? Ich antworte ihm mit einem Vergleich. Ein Mensch liegt schwer erkrankt darnieder; die Krankheit ist unheilbar, wenn man sie vernachlässigt, heilbar, wenn sie zur rechten Zeit behandelt wird. Zwei Freunde besuchen ihn; der eine von ihnen sagt: „Du befindest Dich gut;“ der andere spricht; „Du bist krank und in Lebensgefahr, wenn Du nicht einen Arzt zu Rate ziehst.“ Ist die Rede des Ersteren nicht grausam und die Grausamkeit des Zweiten nicht liebevoll?

Ich verrichte heute bei euch den Dienst des zweiten Freundes; Gott bewahre mich, daß ich jemals an irgend Jemand so handelte, wie der Erste! Ich werde nicht gelinde mit euch verfahren, wie die Welt, die euch die Krankheit eurer Seele verhehlt, damit ihr in derselben verirrt und sterbet; sondern ich werde hart sein wie Paulus, wie Johannes, wie Christus, wie Gott, der eure Krankheit offen darlegt, damit ihr die Heilung derselben sucht und lebt; und ich bitte Gott um die Gnade, daß ich euch mit Kraft, mit Nachdruck, vor allem aber mit Liebe von der Sünde überzeuge.

Vor allen Dingen faßt wohl, was ich darunter verstehe, wenn ich sage, daß wir alle Sünder sind. Das Wort Sünde wird von den Meisten falsch verstanden, und daher kommt der Einwurf, den man gewöhnlich gegen die Wahrheit meines Textes erhebt. Das Evangelium, sagt man, übertreibt, indem es uns Alle der Sünde beschuldigt; die Erfahrung spricht dagegen. Betrachtet mein Leben; ihr werdet sehen, daß ich kein Sünder bin: ich bin nicht geizig, nicht bösartig, nicht unmäßig, kein schlechter Freund, kein undankbares Kind, kein untreuer Gatte; und wenn ich es auch wäre, ich kenne viele, die es sicherlich nicht sind. Wer also spricht, der verwechselt zwei sehr verschiedene Dinge, die Sünde und das Laster. Ich sage nicht, daß alle Menschen lasterhaft sind. Wenn ich es sagte, so würde ich nicht allein übertreiben, sondern ich würde mir auch in den Ausdrücken widersprechen. Denn das Laster ist eine unsittliche Angewohnheit, die dem, welcher sich ihr hingibt, den Tadel anderer Menschen zuzieht, es ist eine schimpfliche Auszeichnung. Einen Beweis dafür liefert das Wort Laster, welches in der deutschen Sprache, die philosophischer ist als jede andere unter den neueren, ursprünglich gleichbedeutend ist mit dem Worte Schande. Wie ich damit, daß ich sage, ein Mensch sei schwächlich, stillschweigend anerkenne, es gebe auch kräftige Menschen, so gestehe ich auch, indem ich einen Menschen als lasterhaft bezeichne, ohne weiteres zu, daß nicht alle Menschen lasterhaft sind. Der Geiz ist ein Laster, folglich gibt es auch edelmütige Menschen. Die Heftigkeit ist ein Laster, folglich gibt es auch sanfte Menschen. Nicht alle Menschen sind lasterhaft, aber alle Menschen sind Sünder, und das ist ein großer Unterschied.

Ich kann euch einen noch bestimmteren Begriff von dem geben, was das Wort Sünde bezeichnet, wenn ich euch an die erste Bedeutung dieses Wortes in der Sprache des Neuen Testaments erinnere. Das griechische Wort, welches wir durch sündigen übersetzen, bedeutet: sein Ziel verfehlen, sich verirren. Der Sünder ist ein Verirrter, ist ein Reisender, der, obgleich er eine feste Bestimmung hat, sich dennoch auf einen Weg, der nicht dahin führt, verirrt; oder setzen wir an die Stelle dieses Bildes das, was es vorstellt: „Der Sünder ist ein Wesen, das einer bestimmten moralischen Richtung folgen muß, aber einen entgegengesetzten Weg einschlägt.“ Nachdem ich also festgestellt habe, was ein Sünder ist, will ich euch jetzt zeigen, daß wir Alle von Natur solche Sünder sind, weil wir Alle, obgleich wir Gott über Alles lieben müssen, doch in unserm natürlichen Zustande irgend etwas mehr lieben als Gott.

Wollte ich mich, um diese zwei Punkte zu beweisen, allein auf das Ansehen der Schrift stützen, so könnte ich Alles mit wenigen Worten beweisen. Denn ich stehe nicht an, zu behaupten, daß in keinem Buche irgend etwas klarer bewiesen und namentlich beständiger vorausgesetzt wird, als diese beiden Behauptungen, daß der Mensch Gott über Alles lieben muß und daß er von Natur irgend etwas mehr liebt als Gott.

Was die erste Behauptung anlangt, so ist es eine besondere Eigentümlichkeit der Schrift, daß sie überall Gott die erste Stelle anweist und für Ihn unsere erste Aufmerksamkeit und unsere erste Liebe laut beansprucht. Gott über Alles lieben, war schon der Geist und der Inhalt des alten Gesetzes. Die erste Vorschrift in den zehn Geboten heißt: „Du sollst keine andern Götter haben neben mir“, das heißt nicht bloß: Du sollst Gott deine äußere Verehrung vorbehalten mit Ausschluß jedes andern Wesens, welches man Gott nennt, sondern auch: Du sollst Gott deine innerliche Verehrung, deine Liebe widmen, indem du Ihn jedem andern Gegenstande vorziehst. So ist dieses Gebot durch die Propheten und durch Moses selbst erläutert, der sich an einer anderen Stelle (5. Mos. 6, 5) in noch klarerern Worten also ausdrückt: „Du sollst den Einigen, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allem Vermögen“.

Das neue Gesetz stößt zwar, als das vollkommene Gesetz, einen Teil des alten um; aber es hält doch das hauptsächlichste Gebot, Gott über Alles zu lieben, aufrecht, entwickelt dasselbe, stellt es in sein volles Licht; und Jesus Christus antwortet auf die Frage eines Schriftgelehrten: „Welches ist das größte Gebot?“ also, daß er Mosis Gebot voranstellt: „Du sollst lieben den Herrn deinen Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, dies ist das vornehmste und größte Gebot“ (Matth. 22, 36.37). Es ist wahr. Er hat mit diesem Gebote ein zweites verbunden: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“. Aber durch die Worte, die Er hinzufügt, das zweite sei dem ersten gleich, gibt Er hier und anderswo, und ebenso Seine Apostel deutlich zu erkennen, daß Er die Nächstenliebe als der Liebe Gottes untergeordnet und aus dieser sich folgerecht entwickelnd betrachtet. Er befiehlt sie daher nicht als ein zweites Grundgebot, sondern Er stellt sie als Folge und Beweis der Beobachtung des ersten Gebotes hin, wie Johannes sagt: „Dies Gebot haben wir von Ihm, daß, wer Gott liebet, auch seinen Bruder liebe“ (1. Joh. 4, 21). Um übrigens keinen Zweifel darüber zu lassen, daß die Liebe Gottes jede andere Liebe beherrschen und bestimmen muß, wählt Jesus Christus unter allen unsern Zuneigungen die bindendste, die Nächstenliebe, und unter allen Uebungen dieser Liebe die unerläßlichste, die Kindesliebe; und dann erklärt Er, daß sogar die Kindesliebe der Liebe gegen Gott beständig untergeordnet werden müsse. „Wenn Jemand seinen Vater oder seine Mutter mehr liebt als mich, der kann nicht mein Jünger sein“ (Matth. 10, 37, Luk. 14, 26). So bestimmt und fest will Er mit der ganzen Schrift, daß der Mensch Gott über Alles liebt.

Die Schrift spricht sich ebenso deutlich über den zweiten Grundsatz aus, daß der Mensch in seinem natürlichen Zustande irgend etwas mehr liebt als Gott, Es wäre leicht für mich, Stellen zu nennen, in denen diese Verkehrung der Ordnung bestätigt wird. „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, die sich von ihrem Hirten verirrt haben, indem ein Jeglicher auf seine Wege sah; wir haben Alle damit begonnen, Kinder der Empörung zu sein, fern von Gott, ohne Liebe zu Ihm, indem wir nach unsern eigenen Gelüsten lebten, ohne uns von Seinem Willen weisen zu lassen; von Natur waren wir Kinder des Zorns, die ganze Welt liegt im Argen, wir sind tot durch unsere Fehler und Sünden; wenn Jemand sagt, daß er keine Sünde habe, so ist die Wahrheit nicht in ihm.“ (Jes. 53, 6; Ephes. 2, 1-3; Kol. 1, 21; 1. Joh. 1, 8.10; 5, 19; Tit. 3, 3). Beschränkte ich mich aber auf solche vereinzelte Stellen, so könnte ich euch veranlassen zu glauben, die Schrift stelle die Verkehrung in den Zuneigungen der Menschen nur in vereinzelten Erklärungen fest, die ich vielleicht mit großer Mühe gesammelt hätte und bei denen Zeit, Gelegenheit und eine gewisse Lebendigkeit der Rede mit in Betracht gezogen werden müssen; in der Tat aber erklärt sie sich hierüber weit weniger durch vereinzelte Behauptungen, durch unbestimmte Anspielungen, weniger dem Buchstaben als dem Geiste, dem Ganzen nach und in Stellen, wo sie ihre Gedanken am vollständigsten darstellt und entwickelt. Das aber kann ich euch nicht in einzelnen Worten beweisen. Ich bin genötigt. Jeden von euch, der die Wahrheit dieser Behauptung prüfen will, auf das Lesen der Bibel zu verweisen, aus der ich hier nur an eine Stelle erinnern will, die ich ganz besonders eurem Nachdenken empfehle; es sind die drei ersten Kapitel des Römerbriefes, dem ich meinen Text entlehnt habe.

Kein Zweifel, der Inhalt dieses Briefes ist kein anderer, als die christliche Lehre auseinanderzusetzen, da Paulus gleich zu Anfang seine Absicht in jenem Verse ankündigt, der gleichsam der Titel des ganzen Werkes ist: „Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, selig zu machen Alle, die daran glauben“. Nun wohlan, so leset die drei ersten Kapitel hintereinander und mit der Aufmerksamkeit, welche die beim ersten Lesen vor lauter Feuer und Fülle etwas dunkle Sprache des heiligen Paulus verlangt, und ihr werdet sehen, daß er die ganze Heilsordnung auf die Verkehrung der Neigungen des natürlichen Menschen gründet und zwar in so festen und bestimmten Ausdrücken, daß man, hat man sie gelesen, gestehen muß: man kann eben so wenig ohne dies Zugestandnis der Verkehrung zum wahren christlichen Glauben gelangen, als man ein Haus zu betreten vermag, ohne durch die Tür einzugehen. Denn indem er seine Leser zu dem Schluß führen will, den er zu Anfang ankündigt, und am Ende seiner Beweisführung wiederholt, daß Gott künftighin die Rechtfertigung durch den Glauben anbietet, weil der Mensch die Rechtfertigung durch die Werke nicht mehr hoffen kann, das heißt, wenn wir Paulus durch Paulus erklären, daß Gott künftighin dem Menschen das ewige Leben als eine Gnade anbietet, weil der Mensch auf dasselbe nicht mehr als auf eine Belohnung rechnen kann – so beweist er damit, daß alle, Juden wie Heiden, sich der Belohnung unwürdig, dagegen der Strafe wert gemacht haben, weil sie alle Sünder sind; und er beweist die Sünde, sowohl der Juden als der Heiden, durch Alles, was die Geschichte von ihrer Verderbnis berichtet.

Sollte Jemand glauben, dieser Beweis ließe sich dadurch erschüttern, daß diese Kapitel des Römerbriefes nur für die Zeitgenossen des Apostels, aber nicht für uns geschrieben sind, so mißbraucht er auf seltsame Weise ein Prinzip, in welchem immerhin einige Wahrheit liegt. Es ist wahr, man findet in dem zu einer bestimmten Zeit geschriebenen und anfangs für die Menschen dieser Zeit bestimmten Evangelium gewisse Einzelheiten, die eine direkte Anwendung nur auf diese Zeit und diese Menschen haben; Anspielungen, Ermahnungen, Vorwürfe, Betrachtungen, die mit den Verhältnissen der Zeit und mit dem Charakter, oder mit dem Geist des Jahrhunderts in Beziehung stehen. Es ist ferner wahr, man kann diese Bemerkung mit Recht auf den Anfang des Römerbriefs anwenden, da die Tatsachen, auf welche sich Paulus beruft, um die Verkehrung der Neigungen des Menschen zu beweisen, aus der Geschichte seiner Zeit genommen sind und nicht sämtlich für unsere Zeit zutreffen; namentlich ist auch das Gemälde, welches er zeichnet, da es das Bild ganzer in einem Gesichtspunkt zusammengefaßter Völker ist, aus verschiedenen, verschiedenen Personen entlehnten Zügen zusammengesetzt, so daß sich nicht alle Verkehrtheiten, die er anführt, in jedem einzelnen Menschen vorfinden. Das Alles ist wahr. Aber nicht minder wahr ist, daß das Evangelium, obgleich es nicht an alle Menschen geschrieben, doch für alle Menschen geschrieben ist; daß die himmlische Weisheit, die es eingegeben hat und für die tausend Jahre sind wie ein Tag und ein Tag wie tausend Jahre, alle einzelnen Menschen aller Zeiten im Auge hatte; daß Paulus in jedem Menschen das Dasein dieses bösen Keims hervorhebt, wenn derselbe sich auch nicht immer durch dieselben Früchte kundgibt, und daß, im Fall er statt an die Römer des ersten Jahrhunderts an die Zeitgenossen des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hätte, er dennoch, obgleich durch teilweise verschiedene Tatsachen, zu demselben Urteil, von dem er Keinen ausnimmt, gelangt sein würde. Jeder Mund also muß sich schließen und Jeder vor Gott sich als schuldig bekennen. „Da ist nicht, der gerecht ist, auch nicht Einer; da ist nicht, der nach Gott fragt; sie sind Alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden; da ist nicht, der Gutes tut“, wiederholt er, „auch nicht Einer“ (Röm. 3, 9-12.) Denn wenn man die Allgemeinheit dieser Behauptungen leugnet, wenn man in der Erklärung des Evangeliums der besondern Zeit einen größern Anteil zuschreibt, als ich es soeben getan habe; wenn man zu behaupten wagt, daß nicht gewisse Einzelheiten, sondern zusammenhängende Unterweisungen, nicht bloß gewisse Beweise im Einzelnen, sondern ganze Beweisführungen bis zu ihren Schlüssen hin, nicht bloß gewisse Züge, sondern Abschnitte, Kapitel, vielleicht ganze Bücher nicht in Betracht gezogen werden dürfen, weil sie nur für Zeitgenossen geschrieben sind und uns nichts angehen, – so seht ihr die Folgen voraus. Steht es uns frei, aus dem Evangelium beliebige Stellen auszusuchen, so werden wir nur glauben, was uns gefällt, und Alles verwerfen, was uns mißfällt, unter dem Vorwände, das gehe uns nichts an. Und da es leicht ist vorauszusehen, was uns gefallen wird, nämlich Alles, was mit unsern persönlichen Ansichten übereinstimmt, und daß wir Alles, was denselben entgegensteht, verwerfen, so nehmen wir vom Evangelium nur das an, was wir schon vorher, ehe wir zum Lesen kamen, glaubten, und lassen Alles daraus weg, was unsern Meinungen zuwider ist, das heißt, gerade das, was uns umwandeln konnte und was gerade ganz besonders von Gott für uns bestimmt war. Sind wir dann bei der letzten Reihe angelangt, so sind wir ungefähr auf demselben Punkte, von dem wir bei der ersten Reihe ausgingen; nur der Name ist verändert, nicht aber der Grund der Ueberzeugungen und der Gefühle. Gott bewahre mich vor diesen menschlichen Systemen und gezwungenen Erklärungen, die unter dem Vorwande, dem Glauben Alles zu nehmen, was nicht vernünftig ist, in den schrecklichen Mißbrauch fallen, gegen welchen der Engel der Offenbarung so sorgfältig den Apostel Johannes zu hüten suchte; „sie fügen hinzu, sie tun davon“ (Offenb. 22, 19), sie verbessern, sie schieben unter, sie „verdrehen die Schriften“ (2. Petr. 3, 16), wie Petrus sagt, und, erlaubt mir den Ausdruck, sie nehmen dem Evangelium das Evangelium [Orig.: ils désévangélisent l’Évangile] und entgöttlichen das Wort Gottes. Mag dies gereinigte Evangelium, dies Evangelium der Menschen, lehren, was es will, ich halte mich an das Evangelium Gottes; und nach diesem Evangelium ist der Mensch von Natur in einem Zustande der Sünde, der Verirrung, der Verkehrung. Ist der Mensch nicht in dieser Verkehrung, so muß man aus der Heiligen Schrift alle Stellen ausstreichen, die ich vorher nannte, nebst den vielen anderen, die ich nicht nannte, in denen aber diese Verkehrung ausgesprochen wird. Ist der Mensch nicht in dieser Verkehrung, so muß man alle Stellen ausstreichen, in denen die Notwendigkeit einer Bekehrung oder einer Wiederherstellung gelehrt wird, weil kein Grund vorhanden ist, den Weg zu ändern, wenn man nicht verirrt ist, oder wieder herzustellen, was nicht umgestürzt ist. Ist der Mensch nicht in dieser Verkehrung, so muß man alle Stellen ausstreichen, in denen die Versöhnung, die wunderbare Erlösung gelehrt wird, dies Erbarmen, welches alle Erkenntnis übertrifft, weil es keine Versöhnung gibt ohne Feindseligkeit, keine Erlösung ohne eine entsetzliche Gefahr, kein unendliches Erbarmen ohne ein unendliches Elend. Dann muß man Seite für Seite, Rede für Rede, Buch für Buch zerreißen, und wenn ihr so die Bibel zerfetzt habt, so müßt ihr diese Fetzen noch zerreißen oder zugestehen, daß der Bibel zufolge jeder Mensch in seinem natürlichen Zustande ein Sünder ist.

Spricht sich aber das Wort Gottes also aus, so bedarf ich meinerseits keiner andern Autorität. Da ich indessen fürchte, daß Manche unter euch nicht Glauben genug an die Bibel haben, um ohne Zögern Alles zuzugeben, was sie lehrt, so will ich einen Augenblick auf euren Standpunkt hinabsteigen und euch zeigen, daß die Vernunft selbst dieser Lehre der Bibel nicht widerspricht, sondern ihr beistimmt, weil sie jene zwei Punkte, nämlich, daß der Mensch Gott über Alles lieben muß, und daß er in seinem natürlichen Zustande etwas anderes mehr liebt als Gott, gleichfalls, wenn auch auf ihre Weise, dartut.

Durch Gründe beweisen, daß unsere erste Liebe Gott gebührt, ist keine leichte Sache. Nicht, weil die Richtigkeit dieses Satzes mir nicht klar erscheint, sondern im Gegenteil, weil sie mir so klar vorkommt, daß ich in Verlegenheit bin, sie zu beweisen, da ich sie bereits instinktmäßig wahrnehme. Ich will es jedoch versuchen und zeigen, daß Gott unserer Liebe im höchsten Grade würdig ist, mag man Ihn an und für sich oder in Seinen Beziehungen zu uns betrachten.

Betrachten wir Ihn zuerst an und für sich. Was gibt es Liebenswerteres als dies vollkommene Wesen, in welchem sich alle bewunderungswürdigen und liebenswerten Eigenschaften, bald einander mäßigend, bald einander hebend, im höchsten Grade vereinigt finden; in welchem Alles so vollkommen ist, daß alle Völker übereingekommen sind, den Dingen, die sie über allen Ausdruck loben wollen, den Beinamen „göttlich“ zu geben! Und wie klar ist es, daß ein solches Wesen das Recht hat, von uns, wenn wir anders in der rechten Verfassung sind, alle Verehrung und alle Hingebung, alle Liebe, deren wir fähig sind, zu verlangen! –

Aber wie viel mehr schulden wir ihm diese Gefühle, wenn wir Ihn nicht bloß in sich selbst, sondern in Seinen Beziehungen zu uns betrachten als Den, ohne welchen wir nichts haben, nichts hoffen, ohne welchen wir, um Alles mit einem Worte zu sagen, nichts sind! Bleibt bei dieser letzten Beziehung stehen und betrachtet sie für sich, als wenn sie allein dastände; und um die Notwendigkeit, daß wir Gott über Alles lieben müssen, zu empfinden, erwägt nur das Eine, daß Er euer Schöpfer ist und ihr Seine Geschöpfe seid. Versucht es, euch eine Idee von dem zu machen, was das Wort „schaffen“ bedeutet: Etwas aus dem Nichts hervorziehen, machen, daß wir, die wir nicht waren, geworden sind, – ihr könnt diesen Gedanken nicht bis auf den Grund verfolgen, er hat Abgründe, in denen unsere schwache Einsicht sich verliert; aber das Wenige, was ihr davon begreift, die Unmöglichkeit selbst, mehr davon zu begreifen, genügt, um euch erkennen zu lassen, daß die Verbindung zwischen dem Schöpfer und Seinem Geschöpfe so stark, so innig, so ausgedehnt, ich möchte sagen, so einzig ist, daß jedes andere Verhältnis ihm untergeordnet, jede andere Verbindung dieser allerersten, der mit Gott, untergeordnet werden muß, die Liebe Gottes jeder andern Liebe gebieten, vorhergehen, jede andere Liebe beherrschen muß. Noch mehr: Gott ist nicht bloß im höchsten Grade eurer Liebe würdig. Er ist eurer Liebe allein würdig. Alles Liebenswerte kommt von Gott, oder vielmehr, alles Liebenswerte ist Gott. Die Heiligkeit, die Wahrheit, die Sittlichkeit, das Gewissen, das Glück, alle diese Namen, welche durch die Ehrfurcht aller Völker und die Forschungen der edelsten Geister verewigt sind, diese Namen, bei welchen die ganze Menschenseele wie von einem heiligen Schauer ergriffen wird, sie haben keine andere Autorität als die Seinige; es sind gleichsam Bruchstücke Gottes, die von einem Geiste, der zu beschränkt ist, um Ihn mit einem Blicke und in Seiner Ganzheit zu überschauen, wenigstens in ihrer Vereinzelung aufgefaßt werden. Die Heiligkeit ist der Wille Gottes, die Wahrheit Sein Gedanke, die Glückseligkeit Sein Zustand, die Sittlichkeit Sein Gesetz, das Gewissen Sein Vertreter; und wenn ihr zu den Uranfängen zurückgeht, so seht ihr alle diese verschiedenen Wege, welche die Religion und die gesunde Philosophie dem Menschen gewiesen haben, mehr und mehr zusammentreffend ihrem Ausgangspunkt sich nahen und zuletzt alle in Gott sich einen, als dem gemeinschaftlichen Mittelpunkt, von dem aus sie ihre Strahlen über das Weltall verbreiten. Da nun aber Gott euer Prinzip, euer Mittelpunkt, euer Ende, euer Alles ist, so beginnt damit, Ihm eure Liebe, euer Herz, euch selbst ganz hinzugeben; erst dann wird es Zeit sein nachzusehen, wie eure Zuneigungen sich auch auf andere Dinge erstrecken können, ohne der ersten Liebe, welcher Alles untergeordnet werden soll, irgend wie Abbruch zu tun. So gebietet die Ordnung. Verlaßt sie, hört auf, Gott über Alles zu lieben, und ihr fallt in eine Unordnung, die um so größer ist, als von dem Grundverhältnis, in welchem ihr zu dem Schöpfer steht, alle Verhältnisse zweiten Ranges, die euch mit den Geschöpfen verbinden, der Art abhängen, daß das erste Verhältnis nicht gelöst werden kann, ohne daß nicht dasselbe auch mit den Verhältnissen zweiten Ranges geschähe.

Macht euch den Zustand des Menschen, der aufhört, Gott über Alles zu lieben, durch das deutlich, was einem Planeten, z. B. der Erde, begegnen würde, wenn sie, ihres gleichmäßigen Laufes um die Sonne überdrüssig, aus ihrem Kreise herausspränge und sich im Weltenraume einen freien und unabhängigen Weg bahnte. Durch diese Verirrung, durch diese Sünde der Erde würde das Grundgesetz ihres Daseins und mit demselben alle andern Gesetze, die von ihm abhängen, zerstört; zu derselben Zeit, wo ihre Beziehungen zu der Sonne aufhörten, würden auch ihre Beziehungen zu ihrem Trabanten und zu den andern Planeten unterbrochen werden. Denkt euch die Verwirrung, welche diese Veränderungen auf der Erde hervorbringen müßten: die durch ihre Bewegungen bestimmten Zeiten, die Tage und Nächte, die Sommer und Winter könnten nicht mehr einander folgen; die Flut und Ebbe des Meeres hätten ihre Ordnung und ihren Zügel verloren; das Leben der Pflanzen, der Tiere, der Menschen wäre in seinem Laufe aufgehalten; kurz, ohne unsere Muthmaßungen noch weiter auszudehnen, es würde eine Verwirrung die andere gebären und endlich ein entsetzliches Chaos entstehen, in welchem die wenigen Züge, die unsere Erdkugel vielleicht noch von ihrer früheren Herrlichkeit und Schönheit blieben, nur dazu dienen würden, die Schmach ihrer Zerstörung zu erhöhen. Ebenso ist auch die innere Verwirrung des Menschen, wenn er von dem Prinzip seines Lebens abweicht und seine erste Liebe nicht in Gott, seinem Mittelpunkte, findet.

Die Vernunft stimmt also mit der Behauptung der Schrift, daß der Mensch, den Gesetzen der Ordnung zufolge, Gott über Alles lieben muß, vollkommen überein, sie stimmt auch mit der andern Behauptung der Schrift überein, daß der Mensch in seinem natürlichen Zustande etwas anderes mehr liebt als Gott.

Und nun wende ich mich an euch, die ihr bis jetzt noch keine Bekehrung erfahren habt, folglich noch in eurem natürlichen Zustande dahinlebt, ich frage euch, ob das Gefühl, welches ihr für Gott hegt, nach aufrichtiger Prüfung eine Alles beherrschende Liebe genannt werden kann. Die Liebe verbirgt sich nicht im Herzen, sie äußert sich durch gewisse sichtbare Zeichen, „wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über“, die Augen sprechen, die Hand arbeitet, der ganze Mensch ist lebendig. Nun wohlan, findet man in eurem Leben die Beweise einer herrschenden Gottesliebe? Urteilt selbst darüber. Ich will einen Augenblick voraussetzen, daß diese Liebe wirklich in Allen lebt, die mich hören, und will nun von ihrem Leben ein ideales Bild entwerfen, das ihr nur mit dem eurigen zu vergleichen braucht, um zu erkennen, ob meine Voraussetzung begründet ist oder nicht.

Gott über Alles zu lieben ist augenscheinlich ihre Herzensneigung, und wenn ich ihnen sage, daß sie vor Allem in Ihm leben müssen, so hat mich Jeder verstanden und weiß in voraus, was ich meine. So wie sie morgens erwachen, ist Gott ihr erster Gedanke, ein Gedanke, der ihnen so ganz von selbst kommt, daß sie ihn nicht erst zu suchen brauchen; sie finden Gott überall, im Innern, das sie durchdringt, und im Äußern, das sie umgibt, in ihrem Herzen, im Tage, der ihnen Licht bringt, in der Luft, die sie atmen. Derselbe Gedanke folgt ihnen Abends bis zum Schluß des Tages, beherrscht in ihrem Geiste alle andern Erinnerungen, erlischt als der letzte im Schlafe, beschäftigt sie zuweilen selbst noch in den Träumen der Nacht, wie er am Tage die müßigen Augenblicke, wo der Geist sich ohne Ziel und Plan seinen natürlichen Regungen überläßt, ausfüllt. Den ganzen Tag ist Gott die Seele alles Dessen, was sie tun; ihr einziger Ehrgeiz ist Ihn zu lieben und Ihm zu gehorchen. Sind sie genötigt, sich materiellen Beschäftigungen hinzugeben, so könnten sie durch dieselben allerdings von Seinem Dienste abgezogen werden, wenn sie es nicht möglich zu machen wüßten, durch den Geist, in welchem sie tätig sind, diese Arbeit Seinem Dienste unterzuordnen. Ihre härteste Entbehrung in dieser Welt ist die, daß sie durch einen schwerfälligen Leib und durch beschränkte Fähigkeiten verhindert sind, sich mit voller Freiheit den Betrachtungen Seiner Eigenschaften und Seiner Wohltaten hinzugeben. Die Zuneigungen des Bluts und der Freundschaft sind bei ihnen ein Widerstrahl der Liebe Gottes, und wenn sie etwas außer Gott lieben, so ist es doch wiederum Gott, den sie in diesen Dingen lieben. Lesen sie, so ist Gott der Lieblingsgegenstand ihrer Lektüre: ein Buch zieht sie an, je nachdem es sie von Ihm unterhält; Sein Wort vor allen hat für sie eine Anziehungskraft, die sie nirgend anderswo finden; und an ihrem unablässigen Forschen in der Schrift hat weniger die Pflicht als das Vergnügen Anteil. Reden sie, so ist Gott der gewöhnliche Gegenstand ihrer Gespräche; Sein Name kommt von selbst in Aller Mund; Seine Güte, die Mittel, Ihm zu gefallen, das Unglück, Ihn zu beleidigen, erfüllen alle ihre Unterhaltungen; den Sorgen des Lebens und den Interessen dieser Welt widmen sie nur so viel Zeit, als durchaus notwendig ist, und drehte sich die Unterhaltung lange Zeit um Dinge, in denen Gott nichts bedeutet, so fühlen sie alsbald eine Leere, die sie mahnt, zu Ihm zurückzukehren. Kurz, was sie auch tun, bis zu ihrem Essen und Trinken hin, sie tun Alles unter den Augen Gottes; es gibt nichts Beständigeres, nichts Lebendigeres, nichts Anziehenderes, als das Gefühl, welches Er ihnen einflößt, und man sieht es ihrem ganzen Leben an, sie haben Ihm nicht aus Zwang, sondern aus freier Neigung ihre Liebe gewidmet.

Meine lieben Brüder, fern sei von mir jeglicher Spott! Ich habe durch das Gemälde von dem, was euer Leben sein würde, wenn ihr Gott über Alles liebtet, euch nur im Überblick zeigen wollen, wie weit ihr davon entfernt seid, Ihn also zu lieben. Jeder von euch hat in sich selbst den Vergleich dieses eingebildeten Lebens mit seinem wirklichen Leben machen können, und Jeder hat empfunden, daß beide in allen Punkten von einander verschieden sind. Es ist nicht wahr, daß Jeder mich begriffen, Jeder im voraus meine Meinung erfaßt hat, als ich sagte, daß wir vor allen Dingen für Gott leben müssen; im Gegenteil, wenn ihr irgend einem lebendigen Ausdruck der Liebe zu Gott und der Hingabe an Gott begegnet, so seid ihr versucht, darin eine Neuerung, eine Übertreibung oder Mystizismus zu sehen. Es ist nicht wahr, daß Gott zu lieben der unwiderstehlichste Hang eures Herzens ist; um diese Liebe in euch zu erwecken, muß man euch erregen, euch erschüttern; und dennoch verschwindet sie einen Augenblick nachher wie ein Funke, der in die Luft steigt und erlischt. Es ist nicht wahr, daß eure härteste Entbehrung die ist, durch einen schwerfälligen, groborganisierten Körper von der Betrachtung und dem Dienste Gottes abgezogen zu werden; ihr empfindet dies Elend eures Leibes erst, wenn er durch materielle Bedürfnisse oder physische Schmerzen heimgesucht wird. Es ist nicht wahr, daß ihr Gott in Denen liebt, die ihr liebt; die Gefühle der Verwandtschaft und Freundschaft sind nur lebhaft durch das, was sie Menschliches haben, und wenn ihr zuweilen Gott mit ihnen verwebt, so ist Er, der Beschützer, nicht der Hauptgegenstand eurer Zuneigungen. Es ist nicht wahr, daß die euch am meisten anziehende Lektüre die ist, welche sich mit Gott beschäftigt, oder gar das Wort Gottes selbst. Heiliges leset ihr aus Pflicht, die Bibel lest ihr Gewissens halber, es ist eine Aufgabe, die ihr erfüllt haben müßt, um zufrieden mit euch selbst einschlafen zu können; aber euren Geschmack, eure Wißbegierde, euren Eifer spart ihr für Bücher auf, die mit den Interessen, wenn nicht mit den Begierden dieser Welt angefüllt sind. Vor allen Dingen, es ist nicht wahr, daß Gott der gewöhnlichste und liebste Gegenstand eurer Gespräche ist; ach. Alles nehmt ihr darin auf, nur Gott nicht. Das Glück und die Gesundheit eurer Angehörigen, die Sorgen eures Berufs, das Gedeihen des Vaterlandes, die Neuigkeiten des Tages, die kleinen Ereignisse des häuslichen Lebens, vielleicht auch die gleichgültigsten und frivolsten Dinge beschäftigen euch wechselsweise, erfüllen und beleben eure Unterhaltungen; aber der Name Gottes findet sich nicht in ihnen und wird, wenn nicht mit weltlicher Leichtfertigkeit, doch mit furchtsamer Zurückhaltung ausgesprochen. Fällt es jedoch Jemand ein, von Ihm mit einem gewissen Feuer zu sprechen, so hält ihn, ich weiß nicht welche fromme Scheu zurück; er mag es nicht wagen, man könnte es seltsam finden, man würde sagen, er predige, es sei nicht die Zeit und der Ort dazu, – als wenn die wahrhaftige Liebe nicht zu allen Zeiten und an allen Orten an der Stelle wäre; als ob die wahrhaftige Liebe so geschickt die Formen zu beachten verstände, sich so gelehrig vor jedem Schein der Kälte zu beugen wüßte; als ob die wahrhaftige Liebe die wäre, welche man nach Gefallen in Stich läßt und wieder aufnimmt, zeigt und verbirgt, je nach dem Tage der Woche, nach der Stunde des Tages, nach dem Tone des Hauses! Ach, man muß von eurer Liebe zu Gott gerade das Gegenteil von dem sagen, was wir eben sagten, – es ist nichts Lebendiges, nichts Lebenerweckendes, nichts Liebendes in dieser Liebe. Das Gefühl, welches ihr für Gott hegt (was ich jetzt sage, ist nicht eine Äußerung, die mir in der Erregtheit der Rede entschlüpft, sondern ein genauer und wohlerwogener Ausdruck); das Gefühl, welches ihr für Gott habt, ist, wenn man von eurem Leben auf dasselbe schließen darf, nichts als eine kalte Achtung, ein Gefühl, mit dem ein Vater, eine Mutter, ein Bruder, ein Gatte, ein Freund nicht allein sich nicht zufrieden geben, sondern welches sie als eine Beleidigung betrachten würden. So sehr ist es wahr, daß nach dem Urteil der Vernunft selbst, der natürliche Mensch Gott nicht über Alles liebt, der natürliche Mensch verirrt, daß er ein Sünder ist.

Ihr habt nun gesehen, daß ihr Gott nicht mit einer Alles beherrschenden Liebe liebt; prüft weiter und ihr werdet finden, und zwar Jeder unter euch, daß ihr irgend einen andern Gegenstand mit der überwiegenden Liebe umfaßt, mit der ihr Gott lieben müßtet. Dieser Gegenstand ist nicht für Alle derselbe; Alle sind Sünder, aber sie sind es nicht auf dieselbe Weise.

Der Gegenstand der hauptsächlichsten Liebe ist für die größte Zahl, für fast alle Menschen in ihrem natürlichen Zustande die Welt. So nenne ich die äußern und sinnlichen Dinge, die zu unserm persönlichen Wohlsein und zu unserer sozialen Stellung das ihrige beitragen: Vermögen, Rang, Ansehn, Wissenschaft, Talente. In einem dieser Dinge finden die meisten von euch den Gegenstand ihrer vornehmsten Liebe, nicht einer kalten Achtung, wie ihr sie Gott bezeigt, sondern eines glühenden und leidenschaftlichen Gefühls. Für die Einen ist es das Vermögen: nicht kalte Achtung zollt ihr dem Silber und Gold, sondern ein glühendes Verlangen; ihr trachtet danach wie nach eurem höchsten Gute, euer Dasein geht in dem Mammon auf, er ist euer Leben, euer Blut, euer Alles. Für Andere ist diese erste Liebe Rang und Ansehn; nicht kalte Achtung widmet ihr den Auszeichnungen der Welt, sondern glühenden und leidenschaftlichen Ehrgeiz; um zu steigen opfert ihr eure Zeit, eure Ruhe, eure Gesundheit, euren Geschmack, euren Hochmuth. Die vornehmste Liebe gilt bei Andern der Wissenschaft und dem Talent: nicht mit kalter Achtung huldigt ihr den Kenntnissen und dem Genie, sondern mit glühender und leidenschaftlicher Bewunderung; wie lebhaft wünscht ihr sie selber zu besitzen, mit welchem Feuer schätzt ihr sie an Andern! Fast Aller erste Liebe ist die Welt, sind die Dinge der Welt. Sie erfüllen euer Herz; sie beschäftigen vorherrschend euren Geist; sie beleben eure Reden; die Gedanken, die sich darauf beziehen, finden euch immer lebendig und aufgeweckt; damit habt ihr stets zu schaffen, davon redet ihr, davon schreibt ihr, davon ernährt ihr euch, davon lebt ihr. Die erste und zahlreichste Klasse der Sünder ist die, welche die Welt Gott vorziehen – die weltlichen Sünder (les pécheurs mondains).

Seien wir indessen gerecht; nicht Alle haben diese Weltlichkeit der Gedanken. Einige haben ein zarteres Gemüth und edlere Zuneigungen. Sie hängen ihr Herz nicht an äußere Dinge, sie geben es der Familie und der Freundschaft. Der Gegenstand ihrer ersten Liebe ist ein Vater oder eine Mutter, ein Gatte oder eine Gattin, ein Kind, ein Freund, auf deren Glück sie ihre Bestrebungen, ihre Pläne, Alles, was sie thun und sind, zurückführen, für die sie eben so viel und noch mehr zu existiren scheinen als für sich selbst, und ohne die das Leben für sie keinen Werth hat. Ich hüte mich wohl, sie mit jenen weltlichen Sündern zu verwechseln, sie haben Gefühle, die sich eben so sehr über die jener Sünder erheben, als die menschliche Liebe alle sichtbaren Dinge überragt. Aber ein schöner Götze ist doch immerhin nur ein Götze; obgleich sie ihre erste Liebe einer höheren Ordnung der geschaffenen Dinge gewidmet haben, so ist es doch nicht minder wahr, daß auch sie das Geschöpf dem Schöpfer vorziehn; sie wenden die erste Liebe, die Gott gebührt, dem Menschen zu, sie sündigen. Die zweite Klasse der Sünder sind also die, welche die Gegenstände ihrer Herzensneigung Gott vorziehn – die liebevollen Sünder (les pécheurs affectueux).

Endlich gibt es vielleicht Menschen, welche ihre vornehmste Liebe weder der Welt noch den Zuneigungen des Herzens zuwenden, sondern dem, was sie als Pflicht ansehn; sie regeln ihr Leben nach ihrem Gewissen, steigen aber nicht zu dem Willen Gottes empor, sie suchen sich zu vervollkommnen, aber weniger, um Gott zu gefallen, als um mit sich selbst zufrieden zu sein. Solche Menschen stehen sicherlich höher als die weltlichen Sünder, höher selbst als die liebevollen Sünder, und ich freue mich, daß die bedauernswerte menschliche Natur noch so edler Bestrebungen fähig ist. Aber wenn wir ihnen jede Art von Gerechtigkeit und selbst von Achtung wiederfahren lassen, so müssen wir doch anerkennen, daß diese Menschen noch nicht in der ordnungsmäßigen Richtung leben. Sie sind sich selbst ihr eigner Mittelpunkt. Sie machen das Gewissen zu ihrem Gott und entsittlichen es dadurch, ohne es zu wollen; denn das Gewissen bezieht sich auf Gott wie der Mond auf die Sonne; es ist nur so lange ein Quell des Lichts für uns, als Gott der Urquell desselben bleibt. Von dem Augenblicke an, wo es nicht mehr sagt: Gott will, sondern ich will, ist das Gewissen selbst ein Empörer, es sündigt; dann trifft den, welcher ihm seine erste Liebe gibt, das, was Christus vorhergesagt hat; „Wann das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß muß dann deine Finsternis sein!“ Darum können diese natürlichen Sklaven der Pflicht, diese Vergötterer des Gewissens wohl tugendhafte, aber keine heilige Menschen sein, sie können frei sein von Lastern, aber nicht von Sünde. Die dritte Klasse der Sünder sind folglich die, welche ihr Gewissen Gott vorziehen – die tugendhaften Sünder (les pécheurs vertueux).

Rechnet diese drei Klassen von Sündern ab, nehmt die Masse der weltlichen Sünder weg, schließt die zahlreiche Schar der liebevollen Sünder aus, laßt auch die dünn gesäete Familie der tugendhaften Sünder fallen, – was bleibt dann, o mein Gott, noch für Dich, zu Deinem Anteil und wie Viele gibt es dann noch, die ihre erste Liebe, die Dir vor Allen gebührt, auch Dir allein bewahrt haben? Nicht Einer, auch nicht Einer! Wir haben alle den Schöpfer des Geschöpfes wegen verlassen, wir haben uns alle verirrt, wir sind alle Sünder!

Liebe Brüder, wenn diese Rede irgend einen Eingang in euer Herz gefunden, wenn sie irgend eine Ueberzeugung, irgend ein Gefühl, irgend eine Ahnung wenigstens von dem Elende eurer Natur in euch erweckt hat, so beschwöre ich euch, diesen Eindruck nicht zurückzuweisen, Ihr könnt euch betäuben, wenn ihr wollt, Ihr braucht nur, wenn ihr dies Gotteshaus verlaßt, zu sagen: diese Lehre ist übertrieben, und man wird euch nur zu gern beistimmen; ihr werdet überzeugt sein, weil ihr es wollt; ihr werdet die lästige Wahrheit, die ich bewiesen habe, beseitigen – aber zu eurem Verderben, Denn habt ihr auch die Wahrheit beseitigt, so ist und bleibt sie dennoch Wahrheit; habt ihr auch die Bibel geschlossen, so ist sie dennoch Gottes Wort; habt ihr auch die Hand über eure Wunde gelegt, so ist sie dennoch ebenso tief, und ihr erreicht damit, daß ihr sie bedeckt, nichts anderes, als daß ihr sie dem Arzte so lange verheimlicht, bis sie vielleicht tödlich geworden ist. Laßt euch doch in eurer gefährlichen Sicherheit stören! Möchte doch der erste Anblick, der euch eben von eurem Elende geworden ist, euch in dem Worte Gottes jene mächtige Autorität finden lassen, zu der ich euch nur habe zurückleiten wollen, da ich wohl weiß, daß der Beweis höchstens die Herzen vorbereiten kann, Gott es aber Seinem Geiste und Seinem Worte vorbehalten hat. euch der Sünde zu überführen. Da wird euch diese Stimme, von der ihr auf jeder Seite sagen müßt, „Es ist die Stimme Gottes und nicht die eines Menschen“, allmälig die unaussprechliche Verkehrung eurer Neigungen offenbaren und euch lehren, euch selbst zu sehen, wie Gott euch sieht. Da werdet ihr in den Fehlern, die euch heute so leicht erscheinen, Beleidigungen der göttlichen Majestät anerkennen, die all euer Blut nicht sühnen kann; in den Gedanken, die euch heute unschuldig erscheinen, Geheimnisse der Ungerechtigkeit, und in den Handlungen, die euer Gewissen heute billigt, verborgene Sünden. Kurz, da betrachtet ihr euch selbst nicht mehr in eurer natürlichen Finsternis, sondern in dem reinen Lichte Gottes, und weit entfernt daran zu zweifeln, daß ihr Sünder seid, könnt ihr kaum glauben, daß es je eine Zeit in eurem Leben gegeben hat, wo ihr dies nicht eingesehen habt.

Fürchtet nicht die Strenge, mit der das Evangelium euch beurteilt. Indem es euren jetzigen Zustand, mit dem die Welt zufrieden ist, verurteilt, lehrt es euch zugleich, daß ihr zu einer Größe, welche die Welt nicht ahnt, berufen seid, und daß es euch dazu führen kann. Es richtet euch nur so streng, weil es euch so heilig haben will; es findet euch nur so arm, weil es euch Alles geben kann; und die Verurteilung, die es über euch ausspricht, ist ein Pfand der Erlösung, die es euch vorbehalten hat und über die man Alles mit einem Worte sagt, wenn man nur Deinen Namen, o Jesus, das heißt, o Heiland, genannt hat!

Ja, großer Gott, der Du nur erniedrigst, um zu erhöhen, der Du nur beunruhigst, um zu beruhigen, der Du nur erschütterst, um zu befestigen, wir nehmen das Urteil unserer Verdammung an. Wir nehmen es an mit Reue und Schmerz, aber auch mit Dankbarkeit und Hoffnung, als ein Unterpfand unsrer Erlösung, Verbirg uns nichts von unsrer Sündhaftigkeit! Gieß in unsre Herzen Dein lebendiges Licht ganz und gar, damit wir uns sehen, wie wir sind! Möge sich aus der Brust Aller, die mich hören, ein Schrei des Entsetzens und der Angst erheben, der den Nebel der Gleichgültigkeit, welcher uns einhüllt, zerreißt, ein Schrei, der bis zu Dir durchdringt und Dein väterliches Herz bewegt, so daß wir künftig auf jede Selbstüberschätzung verzichten und gedemütigt, ganz gedemütigt, gläubig, ganz gläubig und ohne Rückhalt uns Deiner Liebe hingeben und aus dem Abgrunde unsres Elendes durch den Abgrund Deines Erbarmens hervorgehn!

Amen.

Quelle:

Sechs Reden von Adolphe Monod
Aus dem Französischen, mit einem biographischen Vorwort.
Verlag von Velhagen und Klasing, Bielefeld 1860.

Aus: Glaubensstimme – Die Archive der Väter


Eingestellt am 13. Januar 2022