1. Johannes 3, 19.20 (Rosenius)

„Hieran werden wir erkennen, daß wir aus der Wahrheit sind, und wir werden vor ihm unser Herz zur Ruhe bringen, daß, wenn das Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles kennt.“ (1. Joh. 3, 19.20)

Beachte die Worte: „Gott erkennt alle Dinge!“ Er wird darum ein anderes Urteil als unser Herz fällen. Wie das verstanden werden soll, werden wir jetzt sehen.

Jesus sagt, daß „Sein Leib und Blut für uns dahingegeben wurden.“ Wenn du recht glauben und bedenken könntest, was es bedeutet, das der Sohn Gottes Seinen Leib und Sein Blut für uns gegeben hat, dann würdest du anheben, vor lauter Freude zu rufen und zu sagen: „Alle Sünden sind dagegen wie ein Nichts, kaum wie ein Funke gegen das große Meer.“ Und gerade so sieht es der Herr beständig. Im Himmel wird das Blut Christi stets in hohen Ehren gehalten, da gilt es mehr als die ganze Welt. Wir dagegen haben so jämmerliche Herzen, die keinen Augenblick das behalten und bedenken können, was doch größer als die ganze Welt ist. Vor unseren finsteren und gebrechlichen Herzen ist das Blut Christi von ganz geringem Wert, vor Gott aber ist es beständig von einem unermeßlichen und unaussprechlichen Wert. Das weiß Jesus, darum konnte Er sagen: „Wer gewaschen ist, der ist ganz rein, und ihr seid rein.“ Du und ich können es nicht recht glauben, Christus aber glaubt vollkommen, daß Sein Blut gilt; darum kann Er so urteilen, wie wir jetzt gesehen haben. Bedenkst du dies recht, dann wirst du selbst in deiner allerärgsten Sündennot zu Gott sagen können: „Heiliger Vater! Wenn Du mich jetzt verwerfen willst, dann mußt Du zuerst Deinen geliebten Sohn, Seinen Leib und Sein Blut verwerfen, welches Du als Lösegeld für mich angenommen hast. Du kannst mich nicht verwerfen, solange Du das Lösegeld für gültig erklärst.“

Dies ist auch der eigentliche Grund, weshalb die Gnade unveränderlich ist. Johannes sagt: „Gott erkennt alle Dinge.“ Er weiß alles. In Lk. 22 ist zu lesen, daß Christus vorher wusste, daß Petrus fallen und Ihn verleugnen würde. Wenn nun dieses Gebrechen des Petrus für Ihn ein Grund gewesen wäre, ihn zu verwerfen, dann hätte Er es schon zuvor getan und wäre ihm nicht einen Augenblick gnädig gewesen, denn Er kannte ja von Anfang an alle seine Gebrechen. Er glaubte keinen Augenblick etwas Besseres von ihm. Es ist darum ein Gedankenirrtum bei uns, wenn wir meinen, daß Gott in diesem oder jenem Augenblick unsere Sünden zu sehen bekäme. Er hat sie doch alle von Anfang an gesehen. Er sieht in einem Augenblick alles, was in uns wohnt, alles Böse, was unser ganzes Leben hindurch ausbrechen wird. Würde Er uns je deswegen verwerfen oder unser müde werden, dann würde Er nie mit uns angefangen haben, uns zu erretten, uns zu sich zu ziehen und uns zu begnadigen.

Er weiß, daß wir zu allen Stunden, in den besseren wie in den ärgeren, dieselben sind. Bei einem Christen sind zwei Naturen, das Fleisch und der Geist, die immer gegeneinander streiten. Dann tritt zu einer Stunde der Geist so herrlich hervor, daß man kaum etwas vom Fleische, sondern nur Leben, Frieden, Liebe und Gottesfurcht merkt. Zu einer anderen Stunde dagegen treten das Fleisch und der Teufel so gräßlich hervor, daß man kaum etwas vom Geist merkt. Wer konnte in jener Sichtungsstunde bei Petrus etwas vom Geist erblicken? In einem anderen Augenblick trat dagegen der Geist hervor, als Petrus „hinausging und bitterlich weinte“. Nun, Christus weiß stets, daß wir in all diesen Wechseln dennoch dieselben sind; Er läßt sich nicht irreleiten. In dem Augenblick, in dem Petrus sich in Gethsemane so stark und treu zeigt, weiß Christus doch, dass er an demselben Abend fallen wird; und in dem Augenblick, in dem er fällt, weiß Christus doch, daß Petrus im Herzen, im Geist derselbe treue Freund ist. In welcher Stunde sollte Er ihn dann verwerfen? Dies zu bedenken, gehört zu „der heimlichen Weisheit“, um die wir den Herrn bitten dürfen.

Aber noch einmal: „Gott erkennt alle Dinge.“ Christus sagt, daß die gleichen gebrechlichen Jünger, die Ihn in der Stunde der Sichtung verließen, einst im Himmel sein, auf ihren Stühlen sitzen und mit Ihm die zwölf Geschlechter Israels richten werden. Dann wird ihnen weder eine Sünde noch ein Gebrechen ankleben. Christus weiß, wie wir einst die unendliche Ewigkeit hindurch ganz rein, herrlich und schön, voller Liebe und Heiligkeit sein werden, Ihm zu einem unendlichen Lob. Nun denke ich, wie auch ein älterer Lehrer schreibt, daß wir mit aller Vertröstung zu Ihm sagen können:

„O, mein lieber Gott! Ich bitte Dich, daß du in dem Augenblick, in dem ich falle, mich in dem Zustand ansehen wolltest, in dem ich einst im Himmel sein werde, wo ich in keiner Weise gegen Dich sündigen, sondern Dich unendlich loben und lieben werde. Willst Du mich so betrachten, wie ich auf Erden bin, dann findest Du einen Sünder, der Dir jeden Tag, jede Stunde mit Sünde zuwiderhandelt. Betrachtest Du mich aber im Paradiese, dann siehst Du einen Heiligen, der die unendliche Ewigkeit verbringt, ohne Dir ein einziges Mal zuwiderzutun, sondern der Dich beständig und vollkommen liebt und preist.“

Möchte die unaussprechliche Gnade die Herzen aller Gläubigen so einnehmen, erfreuen und stärken, daß sie nichts Höheres lieben als diesen lieben, milden Heiland, dann wird diese Liebe die rechte Heiligungsquelle und Kraft sein. Gott stärke und mehre uns um Seiner Liebe willen den Glauben und die Liebe!

So wie ich bin – in dieser Stund‘,
So kalt und tot und bös‘ im Grund,
Zu finden, was mir fehlet hier,
In sel’gem Überfluss bei Dir,
Komm ich, O Gottes Lamm!

So wie ich bin, hast Du mich lieb,
Du kauftest mich aus freiem Trieb,
Obwohl Du wußtest, wie ich war,
Da meine Schuld Du trugst fürwahr,
O liebes Gotteslamm!

(Carl Olof Rosenius)


Eingestellt am 23. April 2022