Psalm 22, 2

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Psalm 22, 2 LUT)

Auch die Verlassenheit von Gott wird zur Offenbarung Gottes. Darin zeigt er uns seine Herrlichkeit und vollendet seine Gemeinschaft mit uns. Der Psalmist macht uns die Verlassenheit von Gott in ihrer ganzen grauenvollen Tiefe erkennbar. Er läßt keiner Hoffnung mehr Raum. Über jene Zustände, in der ein Mensch fürchtet, Gott könnte ihn verlassen, und deshalb bittet: verlaß mich nicht, ist der Psalm gänzlich hinausgehoben. Es ist zur unzweifelhaften Tatsache geworden, daß Gott seine Hand abzog, seine Hilfe versagte und seine Gegenwart wegnahm. Damit, daß Gott ihn verlassen hat, ist ihm der Boden unter den Füßen verschwunden und alle Bedingungen des Lebens sind zerschnitten. Es gibt keine Hand mehr, die helfen könnte. Von Seiten der Menschen ist nichts zu erwarten, nichts als der Spott über den, den Gott preisgegeben hat.

Und nun tritt das Wunder ein: in der Verlassenheit von Gott vollendet sich Gottes Gemeinschaft mit ihm, auf Gottes Seite, weil er die Verlassenheit in die Erhöhung verwandelt, die den von ihm Verlassenen verklärt, auf der Seite des Beters, weil er, obgleich er von Gott verlassen ist, zu ihm ruft. Sein Blick geht unverwandt zu dem, der sich verborgen hat, und sein Herz kann sich von dem nicht lösen, der heilig ist, dem die Väter trauten und von dem sie die Hilfe empfingen, weil sie ihm trauten, der einst auch sein Gott gewesen ist und es auch jetzt noch ist. Denn es gibt keinen Gott als ihn allein, der ihn jetzt verlassen hat.

Warum ist das Gottes Weise? Ist es die Weise des Zornes? Nein. Der Heilige wird hier offenbar, nicht der Zürnende, der Leben Gebende, nicht der Verderbende. Wer ehrt ihn aber, der, der ihn in der Fülle seiner Gaben preist, oder der, der in der Verlassenheit zu ihm ruft? „Gott um Gottes willen“, das steht über jedem Verkehr Gottes mit uns und über allem, was uns in die Gemeinschaft mit ihm einführt. Er gibt sie mir nicht um meinetwillen, damit ich geborgen und selig sei, sondern um seinetwillen, damit er in voller Wahrheit allein der sei, den wir ehren. Wie schwer wird es uns aber, auch aus unserem Christenstand die eigensüchtige Verderbnis auszutreiben! Deshalb gehört die Gottverlassenheit zur Offenbarung Gottes und darum steht dieser Psalm in der Schrift, und er stand nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Seele Jesu, als er das Kreuz ergriff.

Reinige mich, damit ich wirklich dir glaube. Gepriesen bist du, Lamm Gottes, das auf das Feuer des Altars gelegt wurde, weil es Gottes Eigentum war. Du bist der Versöhner auch für unser mit Eigensucht beflecktes Christentum. Amen.

Quelle: Prof. Adolf Schlatter – Psalter (in: Glaubensstimme)

Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

Hier erblicken wir den Heiland in der tiefsten Tiefe seiner Leiden. Kein andrer Ort bezeugt die Bangigkeit und Schmerzen Jesu so laut wie Golgatha, und kein andrer Augenblick seiner großen Trübsal ist so voller Todesschrecken, wie der Augenblick, wo sein Schrei die Luft durchschneidet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

In diesem Augenblick vereinigte sich große leibliche Erschöpfung mit der furchtbarsten geistigen Qual ob der Schmach und dem Fluch, durch welche Er hindurchgehen mußte; und damit sein Leiden die höchste Stufe erreiche, erduldete Er eine innere Seelenangst, die alle Worte übersteigt, eine Bangigkeit, die in dem Gefühl des Verlassenseins vom Vater ihren Grund hatte. Dies war die schwarze Mitternacht seiner furchtbarsten Schrecknisse; jetzt stieg Er hinab in den tiefsten Abgrund seines Leidens. Kein Mensch vermag sich zu versenken in den vollen Inhalt dieser Worte. Manche von uns meinen zuweilen, sie müßten ausrufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

Es gibt Zeiten, wo das strahlende Lächeln unsers Vaters von Wolken und düstern Schatten verhüllt ist, aber wir müssen bedenken, daß Gott uns in Wahrheit nie verläßt. Es ist bei uns nur ein scheinbares Verlassensein von Gott, aber bei Christo war’s ein wirkliches Verlassensein. Wir bekümmern uns über eine kleine Entziehung der Liebe des Vaters; aber Gottes wirkliches Abwenden seines Antlitzes von seinem Sohn – wer vermag zu schätzen, welch eine tiefe Seelenpein Ihm dies verursachte?

Laß mich Gottes Zorn erkennen,
Teures Heil! in Deiner Not;
Denn sie war der Hölle Brennen.

Uns gibt gar oft der Unglaube diesen Angstruf ein; bei Ihm war’s der Ausdruck der furchtbarsten Wahrheit, denn Gott hatte sich Ihm wirklich eine Zeitlang entzogen. O du arme, betrübte Seele, die sonst im Sonnenschein des göttlichen Angesichts wohnte, jetzt aber im Dunkel der Bangigkeit schmachtet, halte daran fest, daß Er dich nicht wirklich verlassen hat. Gott ist auch in Wolken so gut unser Gott, wie wenn Er im vollen Glanz seiner Gnade leuchtet; wenn aber schon der Gedanke, daß Er uns verlassen habe, uns in schwere Kämpfe hineinführt, wie groß muß erst das Leiden unsers Heilandes gewesen sein, als Er ausrief (Vers 8):

Alle, die mich sehen, spotten meiner, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf.

(Charles Haddon Spurgeon)

Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Psalmen

Eingestellt am 22. September 2020 – Letzte Überarbeitung am 7. April 2023 (Karfreitag)